Teaser Unterwegs
von unterwegs
Nomadsland on mennfoto.com (project)
Wanderer zwischen den Welten

Der Bulle schnaubt laut, Schaum klebt vor seinem Maul, ein gewaltiges, schwarz glänzendes, schweißtriefendes 700-Kilo-Muskelpaket mit Todesangst in den Augen. Der Kopf senkt sich, bereit in der nächsten Sekunde loszupreschen, mit riesigen Hörnern alles aufzuspießen was seinen Tod will oder einfach nur im Weg steht. more...

Ich verfolge die Szene im Rechteck meines Displays und realisiere erst jetzt, dass wir gemeint sind, Günther und ich, dass es maximal zehn Meter und acht Hände sind, die Horn von Objektiv noch trennen. Vier Himba-Männer zerren den Bullen am Schwanz, verhindern, dass er losrennt. Es ist ein auserwähltes Tier, ihm gebührt die Ehre, mit seinem Schädel das Grab des großen Chiefs zu schmücken, Tod durch Ersticken, so will es die Tradition. Die Lieblingsrinder folgen dem Verstorbenen in den Tod, bewachen mit blanken Schädeln die letzte Ruhestätte. Vor 18 Wochen verließen wir Deutschland, 123 Tage, in denen wir zu Nomaden wurden. Seit 20 Stunden befinden wir uns hier, mitten unter jenen, deretwegen wir aufbrachen, deren Lebensweise wir dokumentieren wollen – sie wie wir Wanderer zwischen den Welten.

Wir hatten noch nicht die Zeit, unser Glück zu begreifen, dieses Ereignis, die Beerdigung eines großen Chiefs filmen und fotografieren zu dürfen. Eine Zeremonie, der beizuwohnen normalerweise nur Angehörigen der Himba-Kultur und anderen Nahestehenden vorbehalten ist. Wie sollten wir es auch begreifen, haben wir doch seit unserer Ankunft im Kraal kaum geschlafen und gegessen. Zu überwältigend die Eindrücke, kein Raum für Hunger und Müdigkeit. Jetzt hier zu sein, als einzige Weiße unter rund 500 Himba – war es Zufall, Glück, Bestimmung? Was uns erst Wochen später bewusst werden wird, ist, welch entscheidender Einfluss unsere Anwesenheit hier auf unsere weitere Arbeit haben wird. Sie wird zur Eintrittskarte in die Himba-Community: Wohin wir auch kommen, man erkennt uns wieder, wir werden aufgenommen.
Das Heulen der Sirenen kündigt von Weitem seine Heimkehr an, blaue und rote Lichtstrahlen schneiden kreisförmige Figuren in die undurchdringliche, mit Staub erfüllte Luft, aus der im Schritttempo ein weißer Toyota rollt. Bewaffnete Reiter eskortieren den Wagen, Gewehrsalven in den Abendhimmel feuernd. Wie Boten einer anderen Zeit wirken ihre Silhouetten im Staubnebel. Am trockenen Flussbett haben sie ihn erwartet, das letzte Stück Weg zu begleiten, den Weg aus der Moderne der Stadt zurück zur jahrhundertealten Tradition des Kraals. Um die Kunde seines Todes bis weit über die Landesgrenzen Namibias hinaus verbreiten zu können, wurde der Leichnam Tuahorekua Tjiposas, des einst so einflussreichen Chiefs, wochenlang im örtlichen Krankenhaus von Opuwo tiefgefroren. Stöcke, Keulen und Bierflaschen schwingend kleben Männer wie Bienenwaben in Gruppen zusammen, stampfen mit ihren Füssen rhythmisch die rote Erde auf, stoßen im gleichen Takt sonore Schreie tief aus ihren Brustkörben. Ein Ausdruck von Trauer, von Klage, ein Lobgesang von Ehrfurcht und Respekt, den sie zu seiner Rückkehr anstimmen. Das Singen der Männer vermischt sich mit dem Stöhnen, dem Weinen und Seufzen, Wimmern und Schluchzen der etwa 200 Frauen, in deren Mitte der mit Gold und Spiegeln beschlagene Sarg aufgebahrt wird. Sie sitzen ruhig, sind nicht hysterisch. Im Schatten gleißenden Flutlichts, gehüllt in Decken und vom durchdringenden Brummen eines Generators umgeben, verharrt die Trauergesellschaft bis in die frühen Morgenstunden am Sarg. Mit der aufgehenden Sonne erheben sich die ersten Stimmen zur Grabrede. Himba sind keine Animisten, keine Christen, in der Vergangenheit glaubten sie an die Kraft und Weisheit ihrer Ahnen, an die Stimmen des heiligen Feuers. Das Grab wird nicht geteilt mit der schönsten Lieblingsfrau, sondern mit dem Schädel der schönsten Lieblingskuh. Sicherheitshalber legen konvertierte Verwandte des toten Chiefs ein Bild des Gekreuzigten mit hinein.
Das Schlachten beginnt. Die Auserwählten flüchten und mit ihnen die halbe Herde. Jahrzehnte alter und frischer Kuhdung hüllt binnen Sekunden die Szene in einen undurchdringlichen Schleier, das Atmen transportiert feinsten Schmirgelstaub in unsere Lungen. Auf unserer Haut vermengt sich Schweiß mit Kuhmist, die Kameras kleben uns zwischen den Händen. Er dringt in jeden Winkel, in jede Ritze. Der geringste Windhauch und die Szenerie um uns hilft bei seiner Verteilung.
Ein aus losen Ästen geflochtener Zaun kreist sie ein, gewährt Schutz vor wilden Tieren, Angreifern, Viehdieben. In ihm die Rinder, Ziegen und Menschen, nebeneinander, miteinander, füreinander. Mittendrin wir, im Himba-Kraal, unser Motorrad, Equipment und Zelt. »The tentmaker« rühmt es sich, unser Zelt, nagelneu und irrsinnig teuer. Seit der ersten Nacht stellen die Tentmaker im allabendlichen Ritual unsere Nerven auf eine harte Zerr-Reiß-Probe, hier bringen sie uns schier zur Verzweiflung. Kein Reißverschluss schließt mehr, alle verweigern ausnahmslos den Dienst. So füllt sich das Zelt nach und nach mit allem, wovor es uns schützen sollte, unsere Sachen versinken in Kuhmist. »A tent is as good as the zip«, diesen weisen Spruch erfahren wir später in Südafrika!

Nach vier Tagen im Nowhere dann der Super-GAU! Die Feierlichkeiten neigen sich gen Ende. Dringend müssen wir Filmakkus laden – digitale Aufnahmetechnik giert nach Energie. Die zweite Batterie, hinter dem rechten Koffer montiert und mit der Bordbatterie verbunden, ist nicht Kraftwerk genug, um die Stromversorgung unserer Foto- und Filmausrüstung ständig zu garantieren. Eine in Windhoek von einem deutschen Elektroniker gebaute Konstruktion sieht nun vor, die zweite Batterie während des Ladevorgangs durch zwei miteinander verbundene Solarpanels mit Sonnenenergie zu unterstützen. Eine Möglichkeit, während die BMW steht, die Batterie mit Strom zu versorgen, jedoch äußerst zeitaufwendig. Die Motorrad-Reservebatterie ist bereits fast aufgebraucht, da bekommen wir die Möglichkeit, an einer Autobatterie zu laden. Unglücklicherweise startet der Besitzer des Wagens plötzlich und ohne Vorankündigung den Motor, was das Ladegerät in Sekundenbruchteilen trotz doppelter Sicherung zerstört. Und weit und breit keine Aussicht auf Magie, ein Wunder oder wenigstens auf eine Reparatur. Die verbleibende Akkuleistung wird in strenge Notrationen aufgeteilt, der Einsatz der großen Filmkamera nun genauestens erwogen.

Die Welt der Himba steht auf vier Beinen und hat Hörner, das Universum der Himba dreht sich um die Kuh. Sie versorgt sie mit Milch, Fleisch und Fell, und das ist fast alles, was sie zum Leben brauchen. Es ist diese Genügsamkeit, die ihnen das autonome Überleben, den Erhalt ihrer Tradition und der frei gewählten Lebensform bis in die heutige Zeit gesichert hat. Stolze, selbstbewusste Hirten und trotz ihrer riesigen Herden – viele von ihnen sind Rindermillionäre – gleichzeitig Meister im Betteln. Vielleicht ist Fordern das bessere Wort, oder in Zeiten des globalen Kapitalismus - vermarkten. Sie partizipieren an und profitieren von der modernen Welt, den Strömen internationaler Touristen, die durch ihren Lebensraum geschleust werden, benötigen diese jedoch nicht zu ihrem Bestehen. Im Stadtbild Opuwos wirken Himba wie Paradiesvögel, schön und stolz in ihrer Natürlichkeit.
In den 80er Jahren Ohopoho genannt, war Opuwo Stützpunkt der südafrikanischen Armee und Ausgangspunkt militärischer Operationen gegen die von Angola eindringende SWAPO. Diese organisierten schwarzen Namibier versuchten sich einen Anspruch auf ihr Land und ein Leben in Würde zu erkämpfen, mit dem Erfolg der Unabhängigkeit. Gegen die Himba und San hegt die Ovambo-Regierung bis heute jedoch große Ressentiments, kämpften diese doch während des Krieges als Fährtenleser und gefürchtete Krieger auf Seiten der Weißen. Nach 21 Jahren Unabhängigkeit teilt eine staubige Asphaltstraße den etwa 5000 Seelen zählenden Ort, Drehscheibe der Kunene-Region, an deren bröckelnden Kanten das Leben der Himba pulsiert. Supermarktketten, chinesische Billigshops, drei Tankstellen, Restaurants, ein Krankenhaus, eine Polizeistation, Verwaltungsministerien und auf halber Höhe das SWAPO-Office. Dazwischen kein Café, kein Ort der Ruhe, kein Platz, an den man sich, ausgetrocknet, zurückziehen könnte. Nur Bars mit den verheißungsvollen Namen Miami, Champ Styl, Paris Bar, New Life Bar oder The Place To Be, die fern jeder Schmerzgrenze die Umgebung beschallen. Der Ort ufert aus, vergrößert seinen Radius unaufhaltsam. Die sich rasant vermehrenden Shopping Malls konkurrieren mit der stetig wachsenden Zahl der Kirchenhäuser. Die ehemaligen Besatzer haben sich auf das Betreiben von Edel-Lodges und Campingplätzen spezialisiert.
Auch für uns ist Opuwo zentrale Anlaufstelle und wichtiger Ort unserer Arbeit, um über das Leben der Halbnomaden zu berichten. Obwohl über riesige Distanzen verstreut, treffen wir hier immer wieder auf »alte« Himba-Bekannte, die den säuerlichen Geschmack der Omahere für ein paar Tage eintauschen gegen Black-Label-Bier und Coke. Handy-Guthaben werden mittels Rubbelprepaidkarten aufgeladen, vorbeifahrende Touristen mit »Perende, Perende, Foto Foto« und »Mariba, Mariba, Money Money« zum Fotografieren und Bezahlen aufgefordert.
Zwischen unseren Arbeitsgebieten liegen oft große Entfernungen. Der Lebensraum der Himba und San liegt im infrastrukturell unterentwickelten Norden Namibias, erstreckt sich von der Westküste bis zur Ostgrenze nach Botswana. Schotter, Wellblech, sandige und felsige Strecken. Diverse Reparaturen an Ausrüstung und Motorrad zwingen uns immer wieder in den Süden, nach Windhoek, unser abgelaufenes Visum dann gar zum Verlassen Namibias. So erschließt sich uns das Land in seiner komplexen Schönheit, im grenzenlosen Facettenreichtum der Natur, in seinen menschgesteckten Grenzen. Der Weg führt durch endlose Weite, traumhafte Landschaft, wilde Natur in eingezäuntem Land. Reisen zwischen Stacheldraht und Electric Fences, ein- oder ausgesperrt, ein Leben vor oder hinter dem Zaun. Abseits der Pisten frei zu campen, ohne Hausfriedensbruch zu begehen, ist fast unmöglich. Zäune in allen Variationen: Holz, mit und ohne Draht, mit und ohne Stacheln, doppelt über- und hintereinander; in der Stadt Electric Fences, Videoüberwachung, Bewegungsmelder, Watchmen, blutrünstige Hunde, vergitterte Fenster. Kein Quadratzentimeter, der nicht eingezäunt ist. Treffend beschreibt der Satz eines während der Apartheid nach Südafrika aus gewanderten Kapitäns der Deutschen Afrika-Linie die schwarz-weiße Misere: »Früher haben wir SIE eingesperrt, heute müssen wir UNS vor IHNEN einsperren.«
So wertvoll scheint der Reichtum, so unerträglich die grenzenlose Weite, so unüberwindbar der Unterschied der Kulturen und Hautfarben, dass der Mensch dem unabdingbaren Verlangen nach Zäunen, Abgrenzung und Schutz erlag.

Kapstadt – man sagt, eine der schönsten Städte der Welt – empfängt uns mit Regen. Die nasse Kleidung klebt kalt auf feuchter Haut. Im 3500 Kilometer entfernten Nord Namibias bereitet das Land sich auf den bevorstehenden trockenen und heißen Winter vor. Die Zeit ist gut gewählt, nur vergessene Reklametafeln erinnern hier und da noch an versprochene Träume um die gerade zu Ende gegangene Fußball-WM. Über Stadt und Land hängt bedrohlich und schwer eine Wolke unterschwelliger Gefahr: grassierende Armut und eine neue Form des Rassismus; heute Schwarz gegen Schwarz, gegen Coloured und gemeinsam gegen die weiße Minderheit. Dazwischen Inseln unermesslichen Reichtums und der Verschwendungssucht. Mit Einbruch der Dunkelheit erlischt das Geschäftsleben, die Straßen gehören nun den Autofahrern und Gangs. Überall begegnen uns auch hier Nomaden, freiwillige oder getriebene, geflüchtete Großstadtnomaden. Sie heißen Jaques, Aaron, Spiderman oder sind namenlos. Im Gepäck ihre Geschichten und Erinnerungen. An Tracy, ermordet in Johannesburg für einen Fernseher plus CD-Player nebst einigen CDs. An eine Odyssee um die halbe Welt auf der Flucht vor Armut, vor Kriminalität in Afrika. Sie träumen von Wohlstand und Gerechtigkeit und verehren noch immer ihren Helden – Nelson Mandela, den Vater der Nation. Nach einigen Wochen, später als geplant, verlassen wir Capetown, reisen erneut zu den Nomaden Namibias.

Windhoeks Zeitungen titeln vom Jahrhundertregen, viermal höhere Niederschläge als gewöhnlich, die höchsten seit 120 Jahren, die Wüste zu Prärie, Trockenflüsse zu reißenden Strömen und ganze Landesteile in Katastrophengebiete verwandelt haben. Trotz aller Warnungen wagen wir uns hinein in den fast menschenleeren Raum. Wir müssen, wir wollen – es ist das Siedlungsgebiet der Himba. Kaffee, Tee, Zucker, Reis, Salz, Tunfisch, Trockensuppen, Biltong und Bohnen sollen Nahrungsmittel für die nächsten vierzehn Tage sein. Fünfzehn Liter Wasser und zwanzig Liter Treibstoff werden an der BMW verzurrt. Wohl wissend, dass die Treibstoffreserven für die bevorstehenden 850 Kilometer nicht ausreichen, nehmen wir das Angebot einer Zufallsbekanntschaft, eines deutschen 4x4-Touristen mit behaupteter Afrikaerfahrung, gerne an, uns zusätzliche vierzig Liter Benzin zu transportieren. Das am Kunene gelegene Camp Syncro, einst als Treibstoffdepot eingeplant, hat der Regen zwischenzeitlich in den Atlantik gespült, und was nicht schwimmen konnte, versank im Schlamm.

Das zulässige Gesamtgewicht der BMW ist längst überschritten, wir nähern uns in Fahrt den 500 Kilogramm. Unsere Foto- und Filmausrüstung ist hauptverantwortlich für diese Gewichtsexplosion, leider kann sie um kein Milligramm reduziert werden. Schwieriger noch als das Gewicht der BMW ist ihre Masse zu kontrollieren. Zu viel Masse im Rücken und zu wenig Gewicht auf dem Vorderrad bringen das Fahrwerk schnell ins Taumeln. Die Kompassnadel zeigt Richtung WNW, führt uns direkt zwischen den Giraffenbergen im Süden und den Steilrandbergen im Norden nach Etanga, der ersten Siedlung nach Opuwo auf unserem Weg durch das Kaokoveld zum Kunene, der natürlichen Grenze zwischen Angola und Namibia. Im fünften Gang, mit 70 bis 90 km/h sägt die BMW durch den Schotter, überfliegt fast schwerelos die ausgedehnten Sandpassagen. Ich genieße den Moment der Stille, nicht diskutieren, recherchieren, taktieren zu müssen, sich nur dem Fahren und meinen Gedanken hingeben zu können. Zu hören, wie der Sound des Motors sich im aufgewirbelten Staub auflöst. Ich spüre die Kraft der F 800 GS, empfinde Bewunderung für die Technik, für das Zusammenspiel der Kolben, der Pleuel, der Kurbelwelle, der Lager, der Zahnräder und Ritzel, der Wellen, Walzen und Klauen, der Pumpen. Für die tausenden Teilchen, die ein großartiges Ganzes schaffen, sich zu einer perfekten Symphonie harmonisch vereinigen, von einem elektronischen Baukasten dirigiert. Entschlossenes Bremsen, die Räder krallen sich im Gravel fest. Aus den Bergen herabgestürztes Wasser riss die Piste mit sich und hinterließ ein ausgedehntes Sumpfloch. Weit abseits der Hauptpiste finden wir über festem Untergrund eine Durchfahrt. Unsere Erfahrung macht aufmerksam, der abgekühlte Wind prophezeit die nächste Regenfront. Nahe eines Himba-Kraals schaffen wir es noch, trocken in die Schlafsäcke zu kommen. Zum Frühstück heißer Kaffee und Zigaretten, etwas Brot mit Peanutbutter. Zwei Stunden später ist das Equipment verpackt und aufgesattelt. Unter wolkenfreiem blauen Himmel biegen wir vor Otjitanda auf eine stark abschüssige Geröllpiste nach Orupembe ab. Der Track wird enger, eine hohe Grasnarbe teilt die Fahrspur, unmöglich, den tiefen Regenfurchen oder der felsigen Böschung rechtzeitig auszuweichen. Also geschieht das, was geschehen muss und noch öfter auf unserer Weiterreise geschehen wird. Durch die enorme Breite und die tiefen Zusatzboxen unter den Alu-Koffern wird das Motorrad von einem Felsen aus der Spur katapultiert, auf die rechte Fahrrinne geworfen, um sich dann zu überschlagen. Wir sind unverletzt, doch den Motor, der nun kopfüber trocken läuft, muss ich zum Stillstand bringen. Aber ich komme nicht an den Notschalter. Kurz entschlossen zerre ich am Schalthebel, lege den ersten Gang ein, der Motor blockiert! Nachdem die Welt der BMW, um 180 Grad gedreht, wieder auf zwei Rädern steht, Rea mir versichert, dass sie diesen Zwischenfall filmisch dokumentieren konnte, machen wir eine Bestandsaufnahme. Eine aufgerissene Packtasche, ein abgerissener Windschild, keine Knochenbrüche! Unser GPS ist mit leichten Schürfwunden davongekommen. Weiter geht’s über Felstreppen und Geröllhalden; über faustgroßen roten Kiesel lenke ich die BMW talwärts. All unsere Mühe wird belohnt, die Strapazen, jedes Risiko, das wir eingingen, sind vergessen und bedeutungslos mit der Sicht auf diese makellose Landschaft. In weiter Ferne bläulich schimmernde Tafelberge verhindern, dass die von einem mintgrünen Grasteppich überzogene steinige Ebene am Horizont den Himmel berührt. Hüfthohes Gras wiegt sich sanft im Wind, glitzernd im Licht der Abendsonne, als glänzender, geisterhaft wirkender Schleier legt er sich über das Land. Einmal mehr beweist uns die Natur ihre Überlegenheit, wirft nach einigen Jahrzehnten etwas Wasser auf den Wüstensand und führt uns vor, wie mühelos sie in der Lage ist, die Welt zu verwandeln. Beeindruckt fotografieren und filmen wir den Zauber des Augenblicks, diese gelungene Abendvorstellung, in der eine Himba ihre Ziegenherde durchs Bild treibt.
In meinem Kopf hämmert die Warnung: »Die Strecken im Kaokoveld mit ihren überschwemmten Furten und den weggespülten Pässen sind mit einem derart beladenen Motorrad nicht zu bewältigen! « Der Weg führt uns steil abwärts über Felstreppen, ich steuere eine Furt an, reiße den Gasgriff auf, um gradlinig durch den Sand gegen die noch steileren Felsstufen am gegenüberliegenden Ufer zu rasen. Das Vorderrad schlägt erbarmungslos dagegen, springt, schwebt frei in der Luft, doch das Hinterrad schiebt uns unbeirrt den Hang aufwärts gegen den Himmel, zurück auf den sandigen Track. Verdiente Zigarettenpause, ein Schluck warmes Wasser. Meine anfängliche Skepsis gegenüber der F 800 GS ist in den vergangenen zwölf Monaten und mit gefahrenen 24.000 Kilometern einem aufrichtigen Respekt gewichen. Die große Bodenfreiheit trotz hoher Zuladung, die spontane Schubkraft am Hinterrad hat uns bisher unzählige Male vor gefährlichen Stürzen bewahrt. Wir sind keine sportlichen Freizeitfahrer. Die BMW ist ein Donkey, wie der Namibier sagt, ein Lastenesel.

Im Osten die Baynes Mountains, im Westen die Hartmannberge. Am Marienfluss entlang driften wir durch einen sandigen, mit hohem Gras zugewucherten Track. In Augen, Mund und Ohren, in Hemd und Hose, in Schuhen und Strümpfen Myriaden stechender, juckender, pikender Grasspelzen. Die BMW leidet mit uns. Der Luftfilter setzt sich innerhalb kürzester Zeit zu, die Fahrttemperatur steigt auf 112 Grad Celsius. Der Motor atmet schwer. Auch Auspuff und Wasserkühler setzen sich mit dicken Grasballen zu. Immer wieder müssen wir anhalten, entfernen das trockene Gras, um das Schlimmste zu verhindern: ein Entflammen am heißen Auspuff.
Halsbrecherische Berg- und Talfahrten wechseln mit Kies- und Geröll-Tracks. Kurz vor Sonnenuntergang erreichen wir den Okombangu-Pass. Mit seinen fünf Kilometern Länge erspart er eine Umgehungsroute von 120 Kilometern. Vor dem ersten Gipfel verengt sich die Fahrrinne, steigt beängstigend an. Zwischen Felsplatten und Steinbrocken quetschen sich die Räder fest, die BMW ist blockiert. Endstation, hier geht es für uns nicht weiter! »Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, sich zu trennen«, kommentiert unser 4x4- Begleiter die Situation. Ganze zehn Minuten gewährt er uns zum Auffüllen unserer Treibstoff- und Wasservorräte. Ein letzter Tipp für uns: Wasser könnten wir auch an der 14 Kilometer entfernten Pumpe wieder auffüllen, die läge doch auf unserem Weg und spare ihm Zeit. Er verabschiedet sich schnell mit einem festen Schulterklopfen und dem unvergesslichen Satz: «Günther, big challenge, du schaffst das schon!« Bis heute hallt er in mir nach. Sein Toyota verschwindet hinter der Bergkuppe. Keine Gefahrensituation, kein Sturz konnte uns bisher so schockieren, so hart trifft uns diese menschliche Enttäuschung! Sprach- und fassungslos richten wir inmitten von Geröll und Steinen einen Zeltplatz her und sammeln Feuerholz, bevor die Dunkelheit über uns hereinbricht. Bei Sonnenaufgang und Kaffee laufen wir die Strecke mehrmals ab. Selbst unter größter Anstrengung gibt es keine Möglichkeit, eine fahrbare Trasse zu bauen. Ein weißer Punkt blitzt zwischen den Hügeln auf, von Weitem nähert sich ein Motorgeräusch. Peter, ein weißer Missionar aus Opuwo, in seinem Gefolge fünf schwarze Namibier. Er bietet an, unser Gepäck im Wagen zu transportieren. Die Jungs schieben, heben und stützen das Motorrad seitlich ab, während ich es in Zentimeterabständen die felsigen Stufen hinaufspringen lasse. Felsabwärts rutscht die BMW über den langen Motorschutz, hebelt sich aus. Nach vier Stunden liegt der Berg hinter und der Hoarusib vor uns, der breiteste Fluss der Region. Wir verabschieden uns herzlich und freuen uns auf ein Wiedersehen in Opuwo.
Du siehst das Wasser nicht, und wenn du es hörst, ist es meist zu spät! Vielen sind sie schon zum Verhängnis geworden, die namibischen Trockenflussbetten, kein Paradoxon, darin zu ertrinken. Das Wasser des Hoarusib kommt aus dem Osten, der niederschlagsreichsten Region des Landes. Unzählige Male gehen wir an diesem Vormittag das etwa hundert Meter breite Flussbett ab, das wenig Wasser führt, eine imaginäre Ideallinie markierend. Wir beseitigen die größten Kieselkolosse, denn unweigerlich würden sie mich aus der Bahn katapultieren. Noch während wir die Kameras installieren, färbt sich im Osten der Himmel schwarzblau. Das Wasser steigt blitzartig, der Fluss schwillt zum reißenden Strom. In letzter Minute schaffen wir es, uns und die Ausrüstung ans andere Ufer zur BMW zu retten. Baumstämme surfen schwungvoll flussabwärts an uns vorbei. Wir errichten unser Zeltlager, filmen, fotografieren und hoffen! Der Pegel steigt innerhalb weniger Stunden um mehr als anderthalb Meter. Nach zwei Tagen sind es endlich nur noch 50 Zentimeter an der flachsten Stelle. Mein Entschluss steht fest. Mit nur leicht angewärmtem Motor fahre ich über den steinigen Flusssaum. Die F 800 GS wird jedoch von der noch immer starken Strömung gepackt, treibt in eine tiefe Mulde. Reflexartig gebe ich Gas, erreiche eine Sandbank, doch das schwere Motorrad sinkt unaufhaltsam. Vollgas gebend ziehe und löse ich die Kupplung in kurzen Intervallen und kann die BMW so aus dem Sog befreien, breche über Kieselblöcke auf trockene Erde, ans rettende Ufer flussabwärts, weit entfernt von meinem ersehnten Kurs. Noch dreimal werden wir ihn in den nächsten Tagen kreuzen, den Hoarusib. Schmalere, dafür tiefere Furten. Hoffnungslos, dies aus eigener Kraft zu schaffen. Wir bewältigen sie nur mit Hilfe der Afrikaner und ihrer bewundernswerten Gelassenheit.

Die Götter müssen sehr zornig sein oder verrückt, es regnet seit Monaten, wie auch andernorts im südlichen Afrika. Beharrlich, gnadenlos, Wasser statt Wüste. Unser Weg durch die Heimat der San führt durch den Nordwesten Botswanas bis an den Rand der Zentral-Kalahari. Hierbei queren wir Ngamiland, ein Gebiet, das bis heute größtenteils unerforscht blieb. Es existieren nur wenige zuverlässige Landkarten. Die Berge der Götter, Tsodilo Hills, mythenumrankt und von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt, erzählen in über 2750 Felszeichnungen von der Geschichte der San, vom Anbeginn des Menschseins. Heiliges Wasser fließt jetzt in Strömen vom göttlichen Berg, überflutet unseren Lagerplatz. Wir flüchten notgedrungen, verbringen die Nacht in der klammen Toilette des Rhino Camp. Tage zuvor noch als Tracks erkennbar, liegt nun ein weit verzweigtes Kanalsystem vor uns, dessen Wasser sich in tiefschwarzen Morastlöchern sammelt. Der Untergrund in dem von langdornigen Büschen dicht wucherten Umland ist weich und birgt immer die Gefahr einer Reifenpanne. Wieder schmiert die F 800 wie ferngesteuert in einen schwarzen Kanal, jedoch nach tausenden Kilometern auf losem Boden soll mein Übermut nun bestraft werden. Zu schnell, um die Ursache wahrnehmen zu können, wirft sich die BMW mit uns in die braune Brühe, die überall eindringt, leider auch in den Stativköcher der Filmkamera. Wir reinigen und trocknen und stellen nach Tagen entsetzt fest, dass das feine Gemisch aus pulverigem Sand und Wasser seinen Weg in den Schwenkkopf des Stativs fand. Mit verheerender Wirkung: Er blockiert. Über den Zustand der Rad- und Schwingenlager der BMW sträube ich mich nachzudenken. Ich will ruhig bleiben.

Ein Volk ohne Gegenwart, ohne Zukunft, ohne Hoffnung

Ganz leise singt er sie, kaum hörbar, seine kleine Melodie. Fünf, sechs Töne in immer gleichem Singsang. Er singt so melancholisch, dass man weinen möchte. Seine Daumen begleiten die Melodie auf einem winzigen Klavier, dem Thumb Piano. Zahllose Furchen durchziehen sein Gesicht, so tief, als wäre darin die Geschichte des Niedergangs seiner Kultur zu lesen. Sein Blick ist voll weiser Traurigkeit, er weiß um seine Zukunft, um die seiner Familie: Es gibt sie nicht, sie ist nur noch leise Erinnerung wie sein Lied. Hierarchien sind den San fremd, in ihrer Gemeinschaft gibt es keinen Führer, keinen, der das Sagen hat. Ein Leichtes daher, sie zu übergehen, sie leisten keine Gegenwehr. Sie wurden vertrieben und deportiert, werden in Settlements kaserniert und zu Bettlern degradiert. Ihr Lebensraum muss weichen für Rohstoffe, für Diamanten, Uran, für Luxustourismus. Aus unabhängigen Jägern und Sammlern wurden Abhängige ohne Aufgabe und Arbeit. Ein Volk ohne Gegenwart, ohne Zukunft, ohne Hoffnung. Mit einer verblassenden Vergangenheit, heute nur noch zu finden auf Postkarten und Felszeichnungen. Die Regierung betrachtet die San als rückständige Wilde. In Botswana nennt man sie abfällig »Tswana Dogs«. Ein Volk ohne Stimme, ohne Gehör.
Wir nennen ihn Klick Klack. Khaxa Ciqae in seiner Sprache auszusprechen – für unsere Zungen unmöglich. Wenige Quadratmeter misst Klick Klacks Yard, eine Handvoll Hütten, provisorisch gebaut aus Lehm und Blechresten, Kartonfetzen und Müll. Jeden Morgen mit dem Sonnenaufgang steht er, immer stumm lächelnd, wenige Meter von unserem Zelt entfernt. Diskret und unaufdringlich. In immer gleichem Abstand zwischen ihm und uns. Sich seiner Aufgabe vergangener Zeiten bewusst, sich nach dem Wohl jedes Einzelnen aus der Sippe zu erkundigen. Drei Wochen lang sind wir Teil seiner Familie.
Meist sitzen sie nur herum und warten, kochen Tee, warten. Warten auf das monatliche Care-Paket der Regierung, den Food basket. Warten, dass der Tag vergeht, ein weiterer Tag Leben vergeht. Manchmal gehen sie los, leise, sammeln heimlich, jagen heimlich. Alles verboten, die Jagd ist den Touristen vorbehalten, gegen Geld. Für das Sammeln ihrer Feldkost benötigen sie ein »special permit«, auch das nur gegen Geld.
Zum Abschied befragen wir Klick Klack zu einem alten Buschmann-Sprichwort: »Drei Dinge kehren niemals zurück: der abgeschossene Pfeil, das gesprochene Wort, die vergangene Zeit.« Er nickt, lächelt. Leise, weise, stumm.

»Too much lions on the road! Hier könnt ihr nicht übernachten!« Die Worte, ihre Eindringlichkeit und die Erinnerung an die Fährte, die wir am Morgen unweit des Zeltes entdeckten, bedürfen keiner weiteren Überzeugungsarbeit. Der Fahrer des einzigen Wagens, der uns an diesem Tag begegnen wird, gibt uns den wohl gemeinten Rat. Wir mobilisieren unsere letzten Kräfte, packen die BMW in Rekordzeit auf und versuchen, die letzten Meter Tiefsand zu überwinden.
Vor zwei Tagen brachen wir auf, vor uns 140 Kilometer Piste bis nach Xai Xai. Eine Tagesetappe, dachten wir. Tiefe Wasserlöcher und dichtes, dorniges Buschwerk bestimmten das Tempo. Bis Sonnenuntergang zeigte der Tageskilometerzähler nur zurückgelegte 80 Kilometer. Früh ging es heute Morgen weiter. Schnell endete die Piste in einer tiefen, sandigen Spur. Nach kurzer Zeit war klar, dass ein Fahren in dieser Spur unmöglich ist. Zu tief, zu weich der Sand, zu dicht das Buschwerk, das stellenweise in die Piste hinein wuchert. Stundenlang haben wir das Motorrad geschoben, immer wieder ausgegraben, es zentimeterweise nach vorne bewegt. Die Götter sind ungnädig, es regnet mal nicht, dafür herrschen schwülheisse 45 Grad. Was das Herz jedes Afrikareisenden höher schlagen lässt, dem hofften wir heute nicht zu begegnen: Löwen und Elefanten. Ich versuchte jeden Gedanken an sie aus meinem Kopf zu verbannen, während ich zu Fuß auf der Strecke zurückblieb und es Günther gelang, die BMW mal hundert Meter am Stück vorwärts zu baggern. Weiterfahren oder umkehren – ein Dilemma. Erschöpft, dehydriert und überanstrengt lag Günther mit stark schmerzenden Muskelkrämpfen im Sand. Ganze zehn Kilometer in sieben Stunden. Für heute waren wir am Ende, wollten nur noch unser Camp aufbauen. Dann hörten wir den Truck, das einzige Fahrzeug an diesem Tag ...

Xai Xai hält für uns eine lebende Theatertragödie bereit. Wer den Ort betritt, muss eine Eintritts- bzw. Aufenthaltsgebühr entrichten. Der »Manager« des Ortes, ein Tswana, sucht uns persönlich dafür auf, nachdem wir zuvor den eindringlichen Rat, uns umgehend bei ihm »vorzustellen«, ignorierten. Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt ... Er kommt, besser, fährt vor, mit einem neuen 4x4 der Marke Toyota und will 60 Pula pro Person von uns. Sollten wir über Nacht bleiben wollen, käme noch eine Campinggebühr dazu. Er verweist uns, nach dem Grund gefragt, auf ein »special agreement« mit der Regierung und deklariert den Ort zu einer Art Nationalpark. Das eingenommene Geld würde, nach Abzug aller Kosten, an die Gemeinschaft der hier lebenden San zurückfliessen. Es soll dazu beitragen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Man legt Wert auf ökologische Nachhaltigkeit. Mit dem Sammeln von Müll haben die San die Möglichkeit, sich ein paar Pula zu verdienen. Was wir sehen, ist viel Elend, Schmutz und Alkohol. Das Business machen andere – Tswana. Um 20 Uhr wird dichtgemacht, dann sind alle so betrunken, dass es nur noch Prügeleien gibt.
Im Nachbarland Namibia ist man schon professioneller. In so genannten »Living Museums« führt man den Touristen ein Bühnenstück des traditionellen Lebens mit zu Schauspielern ausgebildeten San auf.

Hektisch springt er auf die Straße, winkt, zwingt uns zum Anhalten unter einem schattigen Baum. Weitere vier Polizisten dösen träge im Schatten. Eine Politesse protokolliert hinter einem Tisch, ihrem provisorischen Büro. Die Geschwindigkeitsmesspistole made in Germany behauptet, wir seien zu schnell gefahren, hätten das Tempolimit von 60 km/h um 25 km/h überschritten. Günther schäumt vor Wut, verlangt Beweise, will ein Foto. Ein Wort ergibt das andere, der Polizist steigert sich in seinen Anschuldigungen: «Behaupten Sie, ich lüge?«– »Ja.« Dann: »Behaupten Sie, ich will Sie ausrauben?« – »Ja« gipfelt in »Behaupten Sie, der Präsident von Botswana ist ein Räuber?« Schwere Anschuldigungen, die Situation droht zu eskalieren. Auf Präsidentenbeleidigung steht Zuchthaus. »Are you the President of Botswana?«, fragt Günther. Sekundenlanges Schweigen, dann lässt er uns einfach stehen. Wegfahren geht leider nicht, unsere Fahrzeugpapiere befinden sich noch immer in seinem Besitz. Nach einer halben Stunde beschließen wir, die Situation italienisch zu lösen. Wir geben uns einsichtig und bieten ihm die Hälfte dessen, was er von uns gefordert hat. Sein Gesicht strahlt: »I will reduce the speed for you!« Eine Tabelle sieht vor, für 300 Pula können wir 69 km/h gefahren sein, Geschwindigkeitsrabatt! Thank you Mr. President, now WE CAN go on.

Text: Rea La Greca


Three-Frontier-Ralley

Windhoek, Oktober 2013

Blitzartig durchdringt ein spitzer Stich mein Gehirn, 9000 Volt explodieren im Kopf und zerstören schneller als ein Flügelschlag jegliches Bewusstsein. Orientierungslos, aus der Zeit gerissen, erkenne ich in meinen Händen eine Kette und ein Schloss, sehe in Augenhöhe gerollten Nato-Draht in dem, kaum wahrnehmbar, silbrige Drähte gespannt, die private Welt von der Aussenwelt Namibias trennen. Fähig wieder zu denken kann ich nachvollziehen, dass meine Stirn, beim Versuch das Tor zu schliessen, den "electric fens" berührt haben muss. Ich sichere das Tor, bin dankbar wieder in Afrika zu sein und freue mich, dass mich nur 9000 Volt anstatt 60000 Volt trafen. Denn vor längerer Zeit, während einer Grill-Party, erfuhr ich von einem deutschen Familienglück, dass sich in den Hügeln vor Windhoek, gegenüber dem schwarzen Township "Katatura" niederließ, was häusliche Geborgenheit bedeutet. Ihre neu erworbene Immobilie wird von hunderten Kilometern Draht eingeschlossen, durch den 60000 Volt 24 Stunden 360 Tage im Jahr fliessen. Eingesperrt und ausgesperrt! Der Gefahr vorbeugend, dass der zweijährige Nachwuchs oder die Hunde an dem Zaun verbrennen, wird das Eigenheim durch eine innere, ein Meter hohe Mauer gegen die Hochspannung abgeschirmt. Voller Stolz erklärte mir der Wahlnamibier, dass ich, sollte ich mit einem Draht in Berührung kommen, mit einer dreitägigen Lähmung und körperlichen Folgeschäden rechnen müsse.
Zwanzig Stunden verschwendete Lebenszeit, eingesperrt hinter faustdicken Glasscheiben, schob ich mich durch endlose Gänge, an endlosen Einkaufspassagen vorbei, glitt über Rollbänder, passierte unzählige Pass- und Gepäckkontrollen in den Tempeln der Mobilität, um zum Sonnenaufgang durch die gläsernen Pforten des Internationalen Flughafens von Windhoek wieder in die Freiheit entlassen zu werden. Auf das Angebot meiner Himba-Reportage antwortet das österreichische Magazin Terra Mater mit Begeisterung und beauftragt mich, gemeinsam mit einem Autor, eine exklusive Geschichte für sie zu fotografieren. Diese glückliche Fügung nutze ich, um mein dringliches Problem mit der südafrikanischen Zollbehörde zu lösen, das Motorrad kurzfristig zu exportieren und wieder mit "refreshed papers" nach Namibia zu importieren.
Nach einem unerwartet langen Aufenthalt in Deutschland, wartet seit siebzehn Monaten unsere BMW sicher in Dieters Haus, dem Motorradwerkstattleiter der BMW in Windhoek, uns weiter von Namibia nach Ostafrika zu bringen. Im Juli 2012 erhielt ich vom ADAC, der mir 2010 ein Carnet de Passage ausstellte, die Mitteilung der zweiten Reklamation des südafrikanischen Automobilclubs/ AASA, der mich eindringlich auffordert, endlich nachzuweisen, wo sich das Motorrad befinde. Könne ich nicht nachweisen, dass sich die BMW ausserhalb der Zollunion befindet, würde der Einfuhrzoll zuzüglich eines Strafzolls fällig. Nach Zollvorschrift darf sich ein Fahrzeug nur drei Monate zollfrei in der Südafrikanischen Zollunion (Namibia, Botswana, Südafrika) aufhalten. Dem Afrikareisenden, der nicht beabsichtigt sein Motorrad zu verkaufen, kann ein "Carnet de Passage" viele Unannehmlichkeiten und Geld im internationalen Grenzverkehr ersparen, wenn er den Zeitraum der zollfreien Einfuhr nicht überschreitet. Das Carnet, ein Zollgrenzdokument, durch Format und Gewicht einem Fahndungsbuch ähnlich, souffliert afrikanischen Grenzstuben Respekt, erweckt Vertrauen. Hält sich jedoch das Motorrad länger als die befristete Zeit in einem Vertragsland auf, und zufällig klebt der Einfuhrbeleg des Carnet an schwitzenden Händen, oder ein Computer weist einen Zollbeamten auf die überschrittene Einfuhrzeit hin, dann tritt der "worst case" ein. Die zuständige Zollbehörde stellt eine Nachfrage beim ADAC/München über den Verbleib des Fahrzeugs. Wo ist das Motorrad? Illegal verkauft, verschenkt, vermietet oder verliehen? Einerlei, die Länder erheben Anspruch auf ihren Einfuhrzoll. Diesen garantiert ihnen das internationale Abkommen mit dem ADAC. Vertragsgemäß fordert der ADAC das mit einem Ausfuhrstempel abgesegnete Dokument an. Jetzt bleibt dem Tourer nichts mehr, ausser das Motorrad kurzfristig aus dem Land zu fahren. Meine Ansprechpartnerin beim ADAC/München, Frau Stephanie, konnte ich überzeugen, dass die BMW stets in meinem Besitz ist, wir die Reise fortsetzten werden, also die BMW aus der Zollunion ausführen, sobald die erforderlichen Voraussetzungen für eine Weiterreise bestehen. Auf dieser Vertrauensbasis erhielt ich aus München weitere drei Anschluss-Carnets und schrieb an die südafrikanische Zollbehörde einen "Letter of Grace" und beantragte gleichzeitig eine "substitution". Kein Erfolg versprechender Aktivismus, der aber im Ernstfall Bemühen bescheinigt. Weder Frau Stephanie, noch ich erhielten je eine Antwort aus Südafrika.
Es ist Oktober 2012, namibischer Sommer. Windhoek stöhnt in der 40 Grad heißen Luft, im Norden steigen die Temperaturen bis zu 50 Grad. Die Erwartungen an den Beginn der kleinen Regenzeit werden nicht erfüllt. Das Land wird von einer unbarmherzigen Sonne beherrscht. Täglich berichtet die Presse von verheerenden Feuern im Norden des Landes. Autos waschen ist verboten, die Pools sollen austrocknen, der englische Rasen verdursten. Nationale Einheit und Einsicht wird erwartet. Nach vier langen Tagen kann ich alle Instandsetzungsarbeiten an der BMW abschliessen. Die modifizierten Packtaschen bieten nun eine grössere Bodenfreiheit, das reparierte IMO überwacht wieder zuverlässig den Motor, der zugesetzte Benzinpumpenfilter ersetze ich durch einen neuen. Ich wechsele den völlig verschlissenen Hinterradmantel. Die 15-er Übersetzung upgrade ich auf eine 16-er, um bei höherer Durchschnittsgeschwindigkeit einen ruhigeren Motorlauf zu erwirken.
Plötzlich stieben die neugierigen Tankwarte erschreckt auseinander, als sich der von mir eingefüllte Treibstoff grossflächig über den Boden ergießt. Unter dem Fronttank, aus dem Haupttank, aus uneinsichtigen Quellen strömt das Benzin. Erst nach Minuten versiegt der Spritfluß, dessen Ursache ich in spröden, verschlissenen Treibstoff- und Überlaufschläuchen feststellen kann. Aus sicherem Abstand erkundigt sich der Tankwart über die Reparatur, als ich Stunden später erneut alle Tanks befülle. Meine persönliche "Three-Frontier-Ralley" soll nun beginnen, denn in acht Tagen muss ich sechs Grenzposten passieren, in Opuwo die Himba-Reportage recherchieren und über viertausend Kilometer zurücklegen, um pünktlich den Terra Mater-Autor in Windhoek zu treffen.
Um zehn Uhr, unter einer noch gnädigen Sonne, lenke ich die BMW über die angrenzenden Hügel der Hauptstadt Richtung Norden, dem Okavango entgegen, der Grenzfluss zwischen Namibia und Angola. Nach Immanuel Kant ist die Zeit ebenso wie der Raum eine „reine Anschauungsform“ des inneren Sinnes. Sie seien unser Zugang zur Welt, gehörten also zu den subjektiv-menschlichen Bedingungen der Welterkenntnis, in deren Form das menschliche Bewusstsein Sinneseindrücke erlebt. Schnell muss ich Zeit und Raum durchfahren, ohne Zeit für intensive Sinneseindrücke und diese in Fotos festzuhalten. Geschwindigkeit ist mein Maßstab.
Landschaft geniesse ich, Menschen interessieren mich. Landschaft fasziniert, in ihrer Schönheit, in ihrer zeitlosen Erhabenheit. Ich reiste durch die Tropen Afrikas, durch die Subtropen, durch ihre Savannen, doch in Träumen reise ich immer wieder durch die Sahara. Ihre Schönheit liegt in der vollkommenen Reduktion der Form. Sonne und Sand, Hitze, und die Kälte unter den Sternen der Nacht. Wüste ist eine Dimension, die keiner erfasst, nur durch den Himmel und den Horizont begrenzt. Ein unwirklicher Ort. Wirklichkeit ist nur Ausgangspunkt, soll niemals Ziel meiner Reisen sein. Afrika ist eine Verführerin, eine unfügsame Unbekannte, die ungezähmte Wilde, die mit ihrer verschwenderischen Landschaft und ihren betörenden Düften verlockt, ihren tiefen, rohen Klängen verwirrt.
11 Uhr, jetzt sind sie nicht mehr zu ignorieren. Als glühende Drähte schweißen sich die Sonnenstrahlen unter die Haut, der 47 Grad heiße Fahrtwind brennt in Augen und Nasenschleimhäute, der fliessende Schweiß trocknet, verkrustet in der Motorradjacke. Eine Fahrt auf der Südhalbkugel nach Norden, ist immer eine Fahrt gegen die Sonne. Hier gilt, anders als auf der Nordhalbkugel: "Im Osten geht die Sonne auf – im Norden nimmt sie ihren Lauf – im Westen wird sie untergehen – im Süden ist sie nie zu sehen!" In entfernt angrenzenden Bergen, in den zu ihren Füßen sich ausdehnenden Ebenen, überall lodern Feuer, steigen dicke Rauchsäulen auf. Die Hitze oder Hitzköpfe haben das Land entfacht. Tief sauge ich den heiß fauchenden Wind in meine Lungen, um die nächste Rauchbarriere, die sich wie ein dichter Schleier über die Fahrbahn legt, zu durchfahren. Immer fühle ich mich erleichtert nicht geatmet haben zu müssen, nach dem Tunnel den blauen Himmel zu sehen, dem Asphalt, der wie Quecksilber leuchtet, weiter zu folgen. Zahllose Buschbrände bedrohen die Tierwelt, die Nutztiere der Farmer, sowie deren Existenz. In der "Namibischen Deutschen Zeitung" lese ich, wie Rinder und Ziegen in den wütenden Flammen an Fluchtgattern einen qualvollen Tod erleiden, da Farmer den Tieren die Gatter nicht öffnen konnten. Wilddiebe und Wilderer tauschten die Schlösser der Tore aus, um gegebenenfalls ihren Verfolgern auf der Flucht den Weg zu blockieren. Stoisch rollt die BMW weiter Richtung Nordost. In Fünfminutenpausen stärke ich mich mit Kaffee und Biltong, entspanne im Schatten der Packtaschen bei einer Zigarette. Auf der B8 verlasse ich Grootfontein und erreiche auf halber Strecke nach Rundu die "Rote Linie". Den Veterinärzaun, erdacht 1897 nach Ausbruch der Rinderpest und Mitte der 1960-Jahre fertiggestellt, teilt er Namibia in einen Nord- und Süddistrikt. Er soll die Bewegung von Vieh, Fleisch und tierischen Produkten von Norden nach Süden unterbinden, um der Ausbreitung von Seuchen entgegen zu wirken. Bis zum Ende der Apartheit im Jahr 1990 und schon während der deutschen Kolonialzeit hatte der Zaun jedoch eine weitere Funktion. Der Drahtwall grenzte die im Norden Namibias lebenden Stämme gegen das ansonsten "weiße Namibia" südlich der Barriere ab. Bis 1977 durfte kein schwarzer Namibier die Grenze ohne Genehmigung überqueren. Noch heute ist er eine Trennlinie zwischen arm und reich, zwischen schwarzen und weißen Farmern. Fleisch ist eines der wichtigsten Exportgüter Namibias in die EU, natürlich ausschliesslich "Südfleisch". Der Norden ist vom Wirtschaftskreislauf ausgeschlossen. Ohne Kontrolle am Mururani-Gate setze ich meine Ralley fort. Nur wenige Meter hinter dem Schlagbaum weht mir ein Hauch Schwarzafrika entgegen. Eine unbegrenzte Sicht, keine Zäune, offen liegt das Land vor mir, Ziegen und Rinder taumeln über die Strasse. Rundhütten mit Stroh gedeckt stehen verstreut im trockenen Sand, verbunden durch ein Netz getrampelter Pfade, vor denen Feuerstellen qualmen, Hunde und Kinder im Schatten dösen. Noch vor Sonnenaufgang, nach einer bescheidenen Ration Schlaf, verlasse ich mein Camp in Rundu am Okavango und begebe mich auf die nächste 600 Kilometer-Etappe durch den Caprivi Strip, der im Zuge einer nicht-kolonialen Namensgebung seit dem 8. August 2013 Sambesi genannt wird, zum namibischen Grenzposten Katima Mulilo. Georg Leo von Caprivi, preußischer General und Nachfolger von Otto von Bismark war bemüht, als Reichskanzler des Deutschen Kaiserreiches von 1890 bis 1894, eine Landverbindung zwischen den Kolonien Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika herzustellen. 1890 führten seine Verhandlungen mit Großbritannien zum Helgoland-Sansibar-Vertrag, der dem Deutschen Reich Helgoland und den Caprivi-Streifen, und Großbritannien Sansibar zusprach.
Meine Hände krampfen vor Anstrengung an der Lenkstange, während mein Blick unbeirrbar von links nach rechts über die Fahrbahn springt und sich in dem gespenstigen Gelände verliert, immer Ausschau haltend nach fliehendem Wild. Die von starken Winden angefeuerten Buschbrände wandelten die Landschaft in eine Schwarzweissszene. Sträucher sind bis zu den Wurzeln abgebrannt. Von kräftigen Bäumen stehen nur noch kurze lodernde Stämme. Böen peitschen die heiße Asche auf. Das nun schon auf 48 Grad erwärmte Luftgemisch ist nur schwer zu atmen, ein Gefühl heisse Kohle zu schlucken. Die sonst so vielfältige Tierwelt der Sambesi-Region scheint ausgestorben. Ein verwaistes Stück Welt.
Nervös, in einem ausgebrannten erschöpften Körper erreiche ich am späten Nachmittag den namibischen Grenzkontrollposten Katima Mulilo am Südufer des Sambesi. Meine Ängste, dass dem Zollbeamten das Ablaufdatum meines Carnet de Passage, das explizit auf jeder Seite prangert, auffällt, erweisen sich als nichtig. Nach kurzen dreißig Minuten sind alle Ausreiseformalitäten abgeschlossen und ich rolle lächelnd mit einem abgestempelten Carnet de Passage auf die Zambezi-Brücke, Sesheke entgegen, in die Fänge der sambischen Bürokratie.
Nach dem mehr als 500 Kilometer langen Trans-Caprivi-Highway bildet die Zambezi-Brücke das letzte Glied im Trans-Caprivi-Corridor von Walvis Bay nach Sambia, Tansania und die Demokratische Republik Congo. In einer Länge von knapp einem Kilometer spannt sie sich in 50 Meter Höhe über die Stromschnellen des Sambesi nach Sambia. Sie gilt als eines der schönsten Ingenieurprojekte der letzten Jahrzehnte im südlichen Afrika. Von Deutschland geplant und finanziert und in Kooperation mit Südafrika gebaut, wird sie 2004 dem Verkehr übergeben. Die Baukosten zuzüglich der Strassenanbindung in Namibia und in Sambia bis Livingstone, beliefen sich auf 50 Mio. Euro, die zu 96% Deutschland und zu 4% Sambia übernahm. Hinter verschlossenen Türen deutscher Ministerien sprach man schon frühzeitig von einem "non returnable credit", eben einem Kredit, der niemals zurück gezahlt wird. Am Ende der Brücke verlasse ich die südafrikanische Zollunion und parke meine BMW unweit des sambischen Flaggenmasts auf einem abschüssigen, verwahrlosten Sandplatz, der von Autoschrott, Stacheldraht und Zaunresten eingesäumt wird. Er erinnert an einen Marktplatz, doch ein Schild mit der jedem Zweifel erhabenen Aufschrift "Douane" lässt die Ungewissheit schwinden am falschen Ort zu sein. Ich sehe ein flaches, kurzes Steingebäude, daneben ein Wohnwagen aus den sechziger Jahren, schief auf Backsteinen positioniert, in dessen Tür vergnügt zwei Füsse baumeln. Kinder bieten Fatcakes und buntes Wasser in Plastiktüten an. Halbwüchsige, deren Hände krampfhaft backsteindicke Geldbündel umklammern, belagern mich sofort, schreien mir Wechselkurse entgegen. Unbewacht lasse ich meine BMW in der Obhut der Nationalflagge Sambias zurück und stelle mich vor einer langen Theke auf. Auf meine Frage nach einem dreitägigen Transitvisum, um kurzfristig das grandiose Naturschauspiel der Victoria Falls zu erleben, bietet mir der Polizeibeamte mit bestimmtem Ton ein dreimonatiges Visum für 50 US$ an. Als ich ihm freundlich erkläre, dass ich für die Strecke zu den Victoria Falls und wieder zurück keine drei Monate benötige, sondern nur 10% seiner mir grosszügig eingeräumten Aufenthaltsdauer, wird sein zweites Angebot ultimativ. Drei Monate für 50 US$ oder kein Visum. Ich nehme sein Angebot an. Dreimal muss ich ihm bestätigen, dass ich gewillt bin die 50 US$ zu zahlen. Das ich zahle, gebe ich mit harscher Stimme unmissverständlich zum Ausdruck. Den Einreisestempel im Pass, schiebe ich dem Zollbeamten mein neues Carnet de Passage mit einer Gültigkeit bis 2/2013 über die Theke. Ohne Frage knickt und biegt er das Dokument achtlos durch seine mächtigen Hände, öffnet den Umschlag, hält das Datum und den Grenzposten fest und rasant, zielgenau aus 50 cm Höhe, knallt der Stempel in seiner Faust auf das Papier. Zumindest hätte ich die Frage nach dem Ausreisestempel Namibias erwartet, die eine Lawine weiterer Fragen hätte auslösen können. Nein! Vollbracht! Jetzt sende ich die Carnets als JPGs nach München und die Reklamation des AASA aus Johannesburg kann zurückgewiesen werden. Mit höflichen Abschiedsgesten versuche ich mich seiner Aufmerksamkeit zu entziehen. Vergeblich, der Kreuzweg beginnt erst. In einem mit Aktenordnern, Papierstapeln und Computern der ersten Stunde aufgequollenen Zimmer, wirft mir eine stark aus der Form geratene Dame zwei Formulare entgegen, während ihr Zeigefinger unbeholfen in ein Smartphone hackt, mit der Aufforderung diese auszufüllen und einen Kwacha-Betrag in astronomischer Höhe hinzublättern. Eine zweite stemmt ihren Körper aus dem Sessel, winkt einen halbwüchsigen Geldwechsler in den Raum. Ich kann ihren Atmen hören, beobachte wie Schweißtropfen über Wangen und Hals perlen und in ihrem Dekoltee versickern. Der "money maker" wechselt und erklärt mir, dass ich 20 US$ für die road tax, zuzüglich einer carbon tax bezahlen muss. Sehr erheiternd zu erfahren, dass auch in Sambia ein Umweltbewusstsein existiert. Eine Abgassteuer und Strassensteuer! Wäre ich nicht so erschöpft und zornig, hätte ich laut gelacht. Gerne hätte ich den Damen erläutert, dass diese Strasse vor ihrem Fenster der deutsche Steuerzahler vor Jahren schon zahlte, also auch mir ein Teil dieser Strasse seit geraumer Zeit gehört. An ihrem Verständnis zweifelnd, nehme ich davon Abstand und die Türklinke in die Hand. Aufatmend zünde ich mir zuerst eine Zigarette an, will entspannen, nicht belästigt, nicht mehr abgezockt werden. Afrika kennt keine Gnade! Mit dem Anliegen, ob ich eine Versicherung für Sambia hätte, baut sich ein nettes Rasterlockengirl vor mir auf. Sofort nötigt sie mich, ihr zu dem einsturzgefährdeten Wohnwagen zu folgen, in dessen Eingang immer noch die Füsse baumeln. Das Versicherungsbüro. Mit dem Carnet und meinen Papieren bestückt, schlüpft sie in das Immobil und beginnt meine und die Personalien der BMW in Bücher und Formulare zu übertragen. Als Raucher weltweit geächtet, beobachte ich von draussen jede Bewegung meiner Dokumente durch ein fensterloses Loch in der Wand, mir nicht gewahr, dass der Rauch ins Innere zieht. Aufgeschreckt trete ich zurück, als sich unerwartet ein Kopf aus dem Fenster reckt, mit dem Appell: "stop smoking, this is a non-smoking country". Mein Rauch muss den, zu den baumelnden Füssen zugehörigen Kopf, aus einem Traum gerissen haben. Ihr Körper liegt immer noch lang ausgestreckt über dem Sitzpolster. Ich entschuldige mich, dass ich versehentlich ihr Leben bedrohte und wende mich von ihrem, mit einer Perücke verzierten Kopf ab. Ihre Füsse hängen jetzt reglos im Eingang. Nachdem ich jetzt auch eine Kfz-Versicherung, natürlich für drei Monate, gezahlt habe, fahre ich um 140 US$ erleichtert nach Sesheke. In einem Camp am Sambesi schirme ich mich bis zum Morgengrauen ab.
Die Luft ist rein, als ich von der Strasse, die mich direkt zu den Victoria Falls geführt hätte, 90 Grad nach Süden in ein schmales, einsam daliegendes Asphaltband abbiege. Nur noch wenige Kilometer, dann werde ich vor der nächsten gefräßigen Truppe korrupter Grenzbeamter Sambias stehen, die keinen Versuch unterlassen werden, mich zu zerpflücken, bis alle Taschen ihrer Uniformen gefüllt sind, mit meinen US$ und Kwacha. Zwischen der ausgebrannten Landschaft und dem schwarzen Teer schimmert ein dunkler Punkt. Blitzschnell scannen meine Augen, so weit sie zu sehen vermögen, einen Radius um ihn ab, jeden Baum, jeden Strauch, jede ungewöhnliche Erhebung in der Landschaft. Eine Falle? Eine Räuberbande, die mich erlegt, in Sekunden all meine Wertsachen an sich reisst, nur mein ärmliches Leben am Strassenrand zurück lässt, um nach erledigtem Auslandsjob über die nahegelegene Grenze nach Botswana zu flüchten? Viele Grenzregionen zeichnen sich durch eine Aufsehen erregende Kriminalitätsrate aus. Sie rauben, morden, plündern. Mittelmäßige Banditen, organisierte Banden und insbesondere Rebellen entziehen sich durch "border jumping" der Kontrolle und ihrer Verfolgung. Ich nähere mich in schleichender Fahrt, der Punkt wird zur Ellipse, gewinnt an Schärfe, formt sich mit jedem Meter, den ich näher komme zu einem halbwüchsigen Afrikaner neben einer 250er Honda. Bei laufendem Motor überprüfe ich nochmals, dass der Junge mit den hilflosen Augen alleine ist. Keine unserer Sprachen lässt uns einander verstehen, doch würde der Junge am Strassenrand stehen, wenn sein Motorrad liefe? Also stelle ich fest, dass ausreichend Treibstoff in seinem Tank ist, der Motor sich jedoch nicht mit dem Elektrostarter zum Laufen bewegen lässt. Der Versuch das Motorrad anzuschieben gibt mir Aufschluss über das Problem. Er muss im vierten oder vielleicht im fünften Gang den Motor zum Stillstand gebracht haben, und jede Bemühung eines Neustartes scheiterte. Die Technik dieses Honda-Typs sieht vor, den Motor nur im Leerlauf starten zu können. Ich trete in die Schaltgabel bis die grüne Kontrolllampe leuchtet und starte den Motor per Knopfdruck, als könnte ich Wunder vollbringen. Seine Hilflosigkeit weicht schnell einem glücklichen Grinsen. Ich halte ihn an, den Motor mehrmals zu starten, was sein Gesicht nun mit Freude erfüllt. Zufrieden, hilfreich gewesen zu sein, sehe ich ihn nach wenigen Metern nur noch schemenhaft in meinem Rückspiegel. Wie lange besitzt man ein Motorrad, um nicht zu wissen, wie es zu starten ist? Habe ich gerade einem Dieb geholfen seine Beute zur Grenze zu bringen? Oder ist die Honda eine Leihgabe seines besten Freundes?
Fragen, die ich schnell vergesse, als ich durch ein rostiges Stahltor, das schief zwischen zwei aufgerissenen Betonpfeilern bewegt wird, dirigiert werde. Uniformierte fragen mit nervösen Bewegungen nach meinen Dokumenten. Ich ignoriere sie und lenke die BMW vorbei an überladenen PKWs, aufgescheuchten Personen, durch blaue Dieselwolken der dröhnenden LKWs, direkt neben eine von der Zeit und der Luftfeuchtigkeit des Sambesi angefressene Mauer. Das muss Mambova sein, der "check out point" aus Sambia. Hinter dieser Mauer müssen die "Dollar-Piranhas" in Uniform sitzen. Ihr Auftrag: die Nation, aber zuerst sich selbst reicher zu machen. Ich zünde mir eine Zigarette an und beobachte ruhig den aufsteigenden Qualm, vor dem sich Frauen, Kinder und alte Männer zu bunten Flecken zwischen schwarzen Öllachen lethargisch im Sand gruppieren. Sie warten, hoffen, dass die Geldscheine in ihren Pässen die Grenzformalitäten beschleunigen, dem Warten unter der nun brennenden Sonne ein Ende setzen. Ich muss nicht lange warten, dass mich eine Schar fliegender Händler einkreist, die mir ihre Dienste und Kontakte, und durch sie eine reibungsarme Abwicklung der Grenzformalitäten, zu Höchstpreisen anbietet. Ein bescheiden am Rande der Traube stehender Junge erweckt meine Aufmerksamkeit. Unser Augenkontakt besiegelt sofort die Zusammenarbeit. Sams Hände reichen nun meine Papieren in die Hände der Polizisten, die fraglos meine Ausreise in den Pass stempeln. Einem Zollbeamten schiebt er meine teuer bezahlten Abgaben- und Versicherungspapiere zu, die dieser, ohne das sein Blick sie berührt, abzeichnet und gelangweilt zurückschiebt. Erleichtert befreien wir uns aus der Menge ins Freie. Die feuchten Papiere kleben fest in meiner Hand, als mir eine raue Stimme unverständliche Worte hinterher wirft. Die Uniform verlangt nach einem Motorraddokument. Wäre ich nicht im Besitz dessen, so könne ich nicht ausreisen, macht mir Sam verständlich. "Cash time" denke ich! Mit hochgezogenen Schultern und entschlossenem Blick weise ich auf die abgewickelten Grenzformalitäten hin. Die roten Augäpfel, die in der Hitze glänzende Schweißschicht über dem Gesicht der Uniform lässt keine Zweifel aufkommen, dass dieser Ordnungshüter keine Lebenszeit mit mir verschwenden will. Gerne hätte ich vermieden, die BMW wieder offiziell in die Zollunion einzuführen, doch das korrekte Prozedere läßt keine Lücke, durch die unbemerkt die BMW hätte schlüpfen können. Direkt fühle ich mich geläutert, zaubere das Carnet de Passage hervor, das er auf seinem Oberschenkel abstempelt. Abfällig wendet er sich von mir ab und ich mich der BMW zu. Sam honoriere ich fürstlich und komme zur Einsicht, dass die sambischen Grenzbeamten bei der Ausreise keine Piranhas sind, sondern ihrem Unbehagen in diesem lähmenden Klima arbeiten zu müssen, Ausdruck verleihen, eben nicht lächeln, wo es nichts zu lachen gibt. Jedenfalls wenn man ihr Land verlässt! Eine neuzeitliche Fähre bringt mich, wo der Chobe in den Sambesi mündet, nach Kasane, in die Grenzstuben
Botswanas. Nach Ausfüllen der obligatorischen Zettel, der Entrichtung der Strassensteuer, wird der Reisende freundlich behandelt und findet sich nach einer kaum wahrnehmbaren Zeitspanne wieder auf dem Asphalt. Leider auch hier mit abgestempeltem Carnet de Passage. In ungetrübter Selbstverständlichkeit wurde nach dem Dokument gefragt. In namibischen Verkehrskontrollen wurde das Carnet nie überprüft, jedoch in anderen afrikanischen Ländern ist nicht auszuschliessen, das der Verkehrspolizist nach ihm verlangt, wie z.B. im Senegal. Die einzige und die kürzeste Verbindung um von Kasane Namibia zu erreichen, bietet die asphaltierte Strasse zum Ngoma Gate, am nördlichen Rand des Chobe National Park. Nach ordentlicher Registrierung öffnet mir ein Ranger den Schlagbaum, und zu meinem Erstaunen ist erlaubt, mit dem Motorrad an Elefanten- und Büffelherden vorbei zu rauschen, bis ich in paradiesischer Lage, hoch über einem bestechend grünen Tal, in dem bunte Kühe weiden, die namibische Grenze erreiche. Nach nur wenigen Minuten erhalte ich meine Aus- und Einreisestempel und lasse die BMW über eine Chobe-Brücke zurück nach Katima Mulilo rollen.
Es ist früher Nachmittag am dritten Tag der Carnet-Ralley. Noch dreihundert Kilometer durch den Strip, dann schlage ich zum Sonnenuntergang an den Popa Falls mein Zelt auf und benachrichtige meinen Dolmetscher in Opuwo, dass wir in zwei Tagen und weiteren Tausend Kilometern unsere Arbeit aufnehmen können. Noch liege ich gut in der Zeit, die Räder radieren monoton über den glühenden Asphalt. Eine Frau am Strassenrand sieht mich an, ein Entsetzen im Blick, und dreht ihren Kopf ruckartig in meine Fahrtrichtung. Intuitiv nehme ich das Gas zurück, die BMW sackt in die Dämpfer. Nun erschließt sich mir ihr Blick als Warnung. Zwei Esel, mit dem Grau des Asphalts verschmolzen, blockieren wie eine Schranke meine Fahrspur. Vollbremsung und die Geschwindigkeit auf ein Minimum reduziert, fahre ich kurz vor dem Aufprall eine weiche Kurve auf die Gegenfahrbahn, die Esel mit den breiten Packtaschen nur knapp verfehlend. Der Frau dankend, reiße ich meine linke Hand hoch und beschleunige wieder auf die 120 Kilometer Durchschnittsgeschwindigkeit.
Reisen ist die Umkehrung von rasen. Reisen kann verletzen, schmerzen, kann aber auch das Leben durch ein Endorphinfeuerwerk erhellen. Reisen befeuert das Gehirn, Erlebnisse zischen wie Blitze durch den Körper. Keine Zeit für Wiederholungen, und das Wiederholte zu wiederholen. Jeder Tag ist Überraschung, eine neue Herausforderung, mit neuen Bildern, neuen Erfahrungen, Meinungen und Sichtweisen. Die Standpunkte anderer Menschen in seine Gedanken einbeziehen, überprüfen, vergleichen, lernen. Es ist die Neugierde, seine persönliche Welt zu entdecken, seine eigene Wahrheit zu finden, und ihr Gegenteil, die ebenso wahr ist. Reisen garantiert die höchst mögliche Nähe zur Wirklichkeit, seinem und dem Leben anderer näher zu sein.
In Opuwo parke ich die BMW vor dem Kaokoland Restaurant. Ein Car-Guard fragt, ob ich ihm etwas leihen könne. Yes! antworte ich, frage, was ich ihm leihen könnte? Let´s say 5 N$. (50 cent) Wann ich das Geld zurück bekomme, frage ich ihn. Next time, when we see us! Wann sehen wir uns wieder? Wenn wir uns sehen! OK! Ich leihe ihm 10 N$ für die geistreiche Antwort, für die charmante Art zu betteln, für das nicht dumpfe Ausstrecken der Hand. Dafür, dass er mich nicht mit "give me" und einem forderndem Blick ansprach, für seine wachen, selbstbewussten Augen. Für den Satz: "Wir müssen betteln, um zu überleben, sorry!" Sie nennen sich Rehobother-Baster, Mischlinge, die einzige traditionelle Gruppierung, die seit der Unabhängigkeit Namibias keinen rechtlichen Sonderstatus mehr genießt. Ihre Selbstverwaltung wurde mit der Unabhängigkeit des Landes 1990 aufgehoben. Sie unterstützten mit Kampftruppen die Deutschen Schutztruppen. Rehoboth, weil er der Name der Hauptstadt ihres Siedlungsgebietes ist, die sie, aus der Kapregion kommend, im Jahr 1871 gründeten. Baster, weil sie Nachkommen aus Mischehen zwischen Nama-Frauen und burischen Einwanderern der Kapregion sind. Ihre Kultur ist traditionell afrikaans und evangelisch-lutherisch geprägt. Die Rehoboth-Baster sind Mitglied der "Unrepresented Nations und Peoples Organization. Rehobother Basters gelten als intelligent, sensibel, schlau, geschäftstüchtig, leicht erregbar und aggressiv. Leider sah ich "Mister Borrow" seitdem nie wieder. Ich hätte noch 10 N$ für ihn.
Bereits in Deutschland las ich, dass die Regenzeit nicht die notwendigen Niederschläge brachte, dass die Himba ihre Herden zu den Wassern in die Berge trieben, dass, geschähe kein Wunder, in Kürze die ersten Tiere verenden würden. Ihn ausgerüstet mit Helm, Sonnenbrille, Handschuhen und einer BMW-Jacke suchen mein Englisch sprachiger Dolmetscher John, Mitglied einer grossen, angesehenen Himba-Familie, und ich, in den nächsten drei Tagen mir schon bekannte Himba-Krale auf, um eine Reiseroute für die bevorstehende Reportage zu entwickeln. Viele Dörfer finden wir verlassen, können aber die Spuren der Himba zu ihren neuen Kralen verfolgen. Himba-Nomaden leben nur vorübergehend an einem Ort, in "temporary villages". Die Krale in meinem GPS gespeichert, kann ich nur hoffen, meine Protagonisten der Reportage in einigen Tagen an diesen Koordinaten anzutreffen. Mit John verabrede ich mich in vierzehn Tagen, an der Polizeistation von Orupembe im Kaokoveld. Erleichtert fülle ich meine Thermoskanne mit starkem, süßen Kaffee und raffe mich auf, zur letzten 900 Kilometeretappe, zurück nach Windhoek, wo in zwei Tagen der Terra Mater-Autor auf mich wartet.
Wir gleiten über den silbernen Streifen zwischen den in der Sonne funkelnden Drähten der Farmzäune, vorbei an niedergebranntem Land, zieht uns die Landschaft in sich hinein. Der Motor arbeitet in vollkommener Übereinstimmung, die synchronisierte Bewegung der Kolben, die sich um eine Achse drehenden Räder und Zahnräder, massiv, koordiniert, nach eigenen Regeln funktionierend, versteckt hinter modernem Maschinendesign, in ausgewogenen Formen und Proportionen. Nur durch die Präzision der Mechanik können die enormen Kräfte im Innern des Motors gebändigt, kann Energie in Bewegung umgesetzt werden. Abrupt bremse ich die Energieentfaltung der BMW und bringe sie vor den prüfenden Augen zweier Polizisten zum stehen. Good afternoon Mister, begrüßen mich zwei blinkende Dollarzeichen! Your Honda is overloaded! No Mister, this is not a Honda, this is a BMW. You know! And a BMW is never overloaded! "Oh yes I see, a BMW! - Then have a safe journey!" Thank´s Mister! Die Reise geht weiter! Seit Oktober 2013 sind wir wieder in Namibia, mit einem Carnet de Passage, das erst 10/2014 abläuft. Unsere Foto-und Film-Projektreise setzten wir nun fort, zu den Nomaden Ostafrikas.

Text: Günther Menn


"Mein Herz ist in Afrika"

Ein Augenblick auf Sambia, März 2014

Verloren beleuchtet ein Lichter-Nikolaus in Grootfontain den afrikanischen Abendhimmel. Es weihnachtelt im südlichen Afrika, ganz ohne Schnee und Minustemperaturen. In wohlsortierten Supermärkten liegen europäische Weihnachtsdekoration inclusive Lebkuchen. Auch das ist Globalisierung.
Uns Menschen ist eigen, wir gewöhnen uns schnell. Und schnell scheint vieles vertraut, bleibt dennoch uns auf seine Weise fremd. Nach insgesamt 16 Monaten und ca. 37.000 km in Namibia und Botswana schließen wir das Thema Himba und San traurig und freudig zugleich ab. Es geht weiter, wir freuen uns auf Neues.
Vertraut waren nicht nur die Menschen, vertraut ist auch der Regen, der uns seit Wochen begleitet, oft tagelang und heftig. Uns immer wieder bremst und blockiert. Die Sonne steht in starker Konkurrenz zum vielen Wasser, sobald sichtbar, dampft sie alles weg. Die kurzen Pausen reichen kaum zum trocknen. Aber, wer sich der Natur, der Welt und ihren Bewohnern ausliefern will, wer davon nicht unberührt bleiben möchte, der reist nicht in einer klimatisierten Dose durch die Landschaft, deren Reifendruck per Knopfdruck regulierbar ist. Der läuft sich lächelnd Blasen an die Füsse, tritt auf einem Velo sich den Schweiss aus den Poren – oder fährt Motorrad. Das garantiert ihm die höchst mögliche Nähe zur Wirklichkeit, seinem und dem Leben anderer näher zu sein. Motorradfahren ist Konzentration, Meditation. Ist Empfinden, Fühlen, ist Freude an der Bewegung zweier Räder, Harmonie resultierend aus Strecke mal Zeit. 4 wheels move your body – 2 wheels move your soul!

Kurz vor Weihnachten setzen wir von Kasane/Botswana mit einer Fähre über den Sambesi nach Kasungula/Sambia über und erreichen noch am gleichen Abend Livingstone. Benannt nach dem schottischen Missionar und Afrikaforscher David Livingstone, war es bis 1935 die Hauptstadt von Nordrhodesien. Als erster Europäer erblickte er die Victoriafälle und beschrieb sie "…als das Schönste, was ich in Afrika je zu Gesicht bekommen habe". Sein Herz hat Afrika nie verlassen. Auf der Suche nach den Nilquellen schwer erkrankt, verstarb er in Chitambo, im heutigen Sambia. Seiner Leidenschaft für den Kontinent und dem Ausspruch: "Mein Herz ist in Afrika" Rechnung tragend, wurde es seinem Leichnam entnommen und unter einem Baum begraben.
Die von ihm zu Ehren der damaligen britischen Königin benannten Fälle zählen heute als der breiteste durchgehende Wasserfall der Erde zum Weltnaturerbe der UNESCO. Aus der 110 m tiefen Schlucht steigen Wasser-Sprühnebel in bis zu 300 m Höhe empor und sind noch 30 km entfernt zu sehen. Auf der schnellen Durchreise wollen auch wir einen Blick auf den "Donnernden Rauch" – Mosi oa Tunya, wie die Fälle von den Einheimischen genannt werden, werfen. Ein leises Reißen und Krachen – gestört von unserem Aufwachen verschwinden sie in den Geräuschen der Nacht. Mit ihnen unsere Tanktaschen, feinsäuberlich abgetrennt, mit allen (der Gewichtsverteilung wegen schweren) wichtigen Ersatzteilen wie Kette, Kettenrad und Ritzel, vier Ersatzschläuche, Ersatzschrauben etc.. PLUS 6 x 2l Wasserflaschen (zu unserer Schadenfreude) alle randvoll. An diesen Taschen trugen sie schwer! Das Zelt vorne und hinten bereits mit Rasierklingen aufgeschlitzt, zu mehr kamen sie nicht. Für uns jedoch das wichtigste, wir blieben unversehrt. Weder erschossen, noch durch Pangas (Macheten) verletzt. Fälle, die wir aus Erzählungen kennen.
Der Chamm bleibt leider wirkungslos. Noch am selben Tag soll er uns alles Gestohlene zurückzubringen. Eigens dafür, erzählt man uns, wurde am Morgen Sand aus den Fußabdrücken der Diebe entnommen. Ein Zauber wurde gemacht. Religion und Aberglaube sind in Sambia tief verwurzelt. Geister und Dämonen, Satanismus und Witchcraft bestimmen das tägliche Leben der Menschen hier. Die Künste der Traditionale Doctors sind vielfältig, decken fast alle Bereiche des täglichen Lebens ab. Auch unser Problem finden wir auf einem Werbeplakat unter Punkt Nr. 39 berücksichtigt: Bring stolen things back. Kurz liebäugeln wir mit der Möglichkeit. Als rational denkende Muzungus (Weiße) entscheiden wir uns doch für DHL.
Weihnachten und Neujahr jedoch sind ein schlechter Zeitpunkt für eilige Bestellungen. Endlich erreicht uns Mitte Januar das ersehnte Paket, nur leider bereits geöffnet, vom Zoll in Lusaka. Unterwegs nach Livingstone gingen alle Ersatzschläuche für das Vorderrad verloren, die hat wohl jemand anderes gebraucht. Chamm! Nochmals von vorne. Nach über acht Wochen, dann sind alle Teile beieinander. Vielleicht hätte der Doctor doch schneller gearbeitet? Oder hat der Chamm seine Wirkung nur verlagert? Der weihnachtliche Kurzbesuch eines deutschen, Afrika durchreisenden Paares bringt neue Packtaschen und Schuhe. Der Manager der Lodge ist über die Maßen freundlich und hilfsbereit, lädt uns dazu ein, unentgeltlich in einem der Zelthäuser zu logieren. Und von Touratech und Metzeler aus Deutschland erhalten wir Ersatzteile, Reifen und den bestmöglichen Support.

Die gestohlene Zeit indes nutzen wir zum Sammeln von Bildern und Geschichten, die auch hier auf uns warten, erzählt werden wollen. Uns auf Fahrrädern, bis weit über die Grenze des Vorstellbaren beladenen, entgegenkommen. Sie leben am Ende des Asphalts. Hier beginnen die Compounds, an den Rändern der Touristenhauptstadt Sambias. Nacht für Nacht schmuggeln sie Maismehl und Kohle in das benachbarte Simbabwe, dort wird bis heute gehungert. Im Gegenzug werden illegal Zucker und legal Speiseöl, Seife und Sirupflaschen nach Sambia transportiert. Bis zu 250 kg auf maroden Rädern in desolatem Zustand, ohne Bremsen, oft nur notdürftig zusammen geschweißt. Mit von Hand genähten Mäntel und durchlöcherten Schläuchen. Mehr schiebend als fahrend werden die ca. 25 km bis zur Grenze zurückgelegt. Die Strecke gleicht einem Parcour aus Hindernissen, Gefahren und unzähligen breakdowns. At zero two hours ist Start im Compound. In vollkommener Dunkelheit balancieren sie ihre überdimensionierte Fracht auf zwei Rädern vorbei an riesigen Schlaglöchern, jetzt, während der Regenzeit, ein Meer aus Wasser und Schlamm. Auf dem Asphalt beginnt dann der gefährliche Part. Der führt durch den Mosi oa Tunya Nationalpark vorbei an Wasserbüffeln, Hipos und Elefanten, mit dem Risiko, jederzeit deren aggressiver Angriffslust hilflos ausgeliefert zu sein. Zusammenstöße, die meist tödlich enden. Weit größer aber ist die Furcht vor einer anderen Spezies: den human beings. Vor rücksichtslosen LKW- und betrunkenen Taxifahrern tagsüber und, mit beginnender Dämmerung, vor bewaffneten Banden. Der Hunger nach schnellem Geld ist groß und ein Menschenleben gilt auch hier nicht viel. Nephas hatte Glück. Er konnte fliehen, nur leicht verletzt nach einem Angriff mit Macheten und Axt. Seine Existenzgrundlage: sein Fahrrad, seine Ware und Geld hat er dabei verloren.
An der Victoria Falls Bridge, Nadelöhr und einzige Verbindung in der weiteren Region nach Simbabwe, passieren sie unter den wachsamen, gierigen Augen der zu bestechenden Soldaten die Grenze. Kann nicht bezahlt werden, verlieren sie ihre Waren und Fahrräder an die korrupten Zöllner und Beamte. Dies droht auch in Simbabwe, obwohl dort offiziell Einfuhrzoll entrichtet wird. Zu sehr hat man sich hier bereits an das lukrative Geschäft mit Verhaftungen gewöhnt.
Brücken verbinden, wussten bereits auch die Engländer. Auf der von den ehemaligen Kolonialherren 1904 fertig gestellten Victoria Falls Bridge kreuzen sich, meist unbemerkt voneinander, die Wege der Schmuggler und Touristen. Wasserfälle, Brücke und das seit geraumer Zeit angebotene Bungee Jumping locken täglich hunderte von Besuchern an. Der Jump ins Niemandsland zwischen Sambia und Simbabwe wird als einer der besten in der Welt gepriesen. 135 US Dollar kostet der Sprung in die Tiefe, 175 US Dollar ein Dreierpaket. An guten Tagen zählt man über 120 Jumper. Erweitern lässt sich das Angebot um Brückenwanderungen, Elefantenreiten, Spaziergänge mit Löwen im Sonnenuntergang und vieles mehr. An den Wochenenden und über die Feiertage wird der Luftraum über Livingstone zur Kriegs- und Kampfflugzone. Mit Sonnenaufgang steigen die Helikopter und die Microlights, fliegen die Touristen im Halbstundentakt an die Vicfalls-Front.
Vorbei an dieser Event-Palette radeln täglich die Jungs aus den Compounds. Ihnen winkt am Ende des Tages als Lohn das nackte Überleben. In harter Währung zwischen 2 und 10 US Dollar, wenn alles gut läuft.
Ab März versiegt für viele der Fahrer auch diese Einnahmequelle. Zum Ende der Regenzeit kehren die Elefanten zurück in den Park. Das Risiko wird dann unkalkulierbar, der Lohn der Angst zu niedrig.

Das mit den korrupten Grenzsoldaten nicht zu spaßen ist, erfahren wir auf einem unserer zahlreichen Brückenbesuche. Nachts begleiten wir die Schmuggler auf ihrem Weg am Bahngleis entlang zur Brücke. Was wir nicht wissen: die Wachhabenden sehen uns, verstecken sich vor unseren Kameras. Sehr zur Freude und Belustigung der Fahrradfahrer. Vom Schock unserer nächtlichen Anwesenheit erholt, gehen die Soldaten am morgen in die Offensive. Ein Soldat kontrolliert Günthers Papiere, verdächtigt uns der Spionage. Wir würden, anders als andere Touristen, mit den Menschen reden, wird uns vorgeworfen! Zu viel steht für sie auf dem Spiel und zu hoch ist ihr täglicher und nächtlicher Profit auf der Brücke. Was uns schützt ist sicherlich die Tatsache, dass der Brücken-Tourismus für Sambia eine wichtige Einnahmequelle darstellt. So bleibt es bei Drohgebärden, Einschüchterungsversuchen und einem warnenden: "I keep you in my eys". Was der Soldat nicht weiß ist, dass Günther ihn längst auf seiner Netzhaut hatte. Er, bereits umgewandelt als RAW, auf einer Speicherkarte weilt. Wir beobachteten ihn, wie er die Waren eines Händlers in Zahlungsnot zunächst eigenhändig Stück für Stück in den Sambesi warf. Um Macht und Ohnmacht noch zu verstärken, zwang er den vor ihm Knienden den Akt der Vernichtung seiner Existensgrundlage selbst zu vollenden.

Auf der Brücke lernen wir auch Patrick und Julius aus Simbabwe kennen. Sie regulieren hier den immensen Transitverkehr, denn täglich überrollen hunderte von LKW´s die stählerne Konstruktion. Pünktlich ab 6 Uhr, jeden morgen. Unpünktlich und nachlässig ist nur die Zahlungsmoral ihres Arbeitgebers, der simbabwischen Regierung. Über 4 Monate warten sie nun schon auf ihr Gehalt, ob es überhaupt gezahlt wird, ist ungewiss. Das Land ist derart verarmt, die Inflationsrate so hoch, dass man sich gezwungen sah, die eigene Währung durch US Dollar als Zahlungsmittel zu ersetzen. Der seit der Unabhängigkeit vor 34 Jahren amtierende Präsident Robert Mugabe zählt zu den reichsten Männern der Welt mit einem Hang für ausschweifende Feste. Für seinen 86. Geburtstag soll er mehr als 500.000 US Dollar nur für Champagner und Kaviar ausgegeben haben, für die Hochzeitsparty seiner Tochter vor wenigen Monaten mehr als 5 Millionen US Dollar. Autokratisch und diktatorisch regiert er sein Land, hat aber sein Geld, und sicherlich auch das seinen Landsleuten zugedachte, für sich gewinnbringend im Ausland deponiert. Entwickelt wird dort nur das eigene Vermögen, Wachstum findet nur auf seinen eigenen Konten statt.
Auch in Sambia hat sich seit der Wahl des neuen Präsidenten Sata in 2012 die allgemeine Situation des Landes nicht verbessert, wird eher stetig schlechter. Das Land zählt noch immer zu den ärmsten der Welt, Korruption bestimmt das tägliche Leben, ist allgegenwärtig. Ausgebaut wurde lediglich die Arbeit der Geheimpolizei, gewachsen ist ein Heer von Spitzeln. Nach Amtsantritt änderte der Hoffnungsträger Sambias die Gesetze zum Export von Mais. Die fahrradfahrenden Händler wurden illegalisiert, denn seither ist es nahezu unmöglich, ein Permit zur legalen Ausfuhr von Maismehl zu erhalten. Das Geschäft ist somit der Regierung vorbehalten. Täglich donnern die mit Maismehlsäcken beladenen LKW´s auf ihrer Strecke nach Simbabwe an den Fahrradfahrern vorbei.

Die Aidsinfektionsrate ist in Livingstone 4x höher als im restlichen Sambia; das Land hat mit die höchste in Afrika und die meisten Aidswaisen. Die Lebenserwartung liegt bei ca. 38 Jahren. Der Watchman vor Spar arbeitet täglich 12 Stunden und erhält dafür 10 Kwacha, umgerechnet ca. 2 US Dollar. Die Lebensmittelpreise im Supermarkt dagegen sind sehr europäisch. Ein Blick in den Steinbruch katapultiert uns ins Mittelalter. An einen der Compounds angrenzend, bröckelt dieser dort ab, wird nach und nach abgetragen. Hier organisieren sich die Armen selbst. Fast selbst, denn immer gibt es einen, der nochmals profitiert. Sie brechen Felswände und -brocken ab, zerkleinern diese zu Schotter. Von Hand, mit Eisen und Hämmern, Männer, Frauen, Kinder jeden Alters. Alttestamentarischer Vorhof zur Hölle.
Unser Vorhaben, im Steinbruch zu fotografieren und zu filmen, müssen wir erst einem Komitee vortragen. Leicht auszumachen, an wen wir uns wenden müssen, denn unschwer sind seine Mitglieder an Form und Aufenthaltsort erkennbar. Ausladende, überernährte Körper unter schattigen Dächern. Sie verwalten den Steinbruch, verwalten die Armut, Schweiß und Staub. Verwalten das Land, das niemandem gehört, eigentlich allen gehört. Regierungsland. Sie sind Zwischenhändler, die Schubkarrenladungen ein-, und gewinnbringend, LKW-weise verkaufen. Sie wollen, dass wir supporten, ein Eintrittsgeld entrichten. Das, wie uns versichert wird, unter allen Arbeitern aufgeteilt werden soll. Ein guter Vorsatz, zu mehr hat es nicht gereicht, wie so oft. Wegen heftigem Regen beginnen wir erst zwei Tage später mit unserer Arbeit. Unmut, Zorn und Ablehnung schlägt uns unverhohlen entgegen. Das Geld wurde nicht geteilt, das afrikanische Problem auf uns verlagert. Ein wütender Mob formiert sich, umringt uns. Das Komitee hat sich, trotz Leibesfülle, aufgelöst. Nur mit Mühe und der Hilfe unseres Dolmetschers Moses können wir die Situation schlichten.

Die Verhältnisse auf diesem Kontinent, die Menschen und ihre Umgehensweise damit, binden unsere Gedanken. Auch unsere Herzen schlagen, wie das des Forschers Livingstone, für Afrika. Aber immer wieder wird uns bewusst, wie schwer es fällt, diese Kultur auch nur annähernd zu verstehen. Wir üben uns in täglicher Gedankenakrobatik über Kultur und Misere in Afrika. Es macht Freude, mit den Menschen zu sprechen, es ist schwer, wieder zu gehen mit dem Wissen über die großen Hoffnungen, die insgeheim und offen in uns gesetzt werden, weil wir Weiß sind. Weil Weiße immer reich sind und Muzungus immer helfen, sprich bezahlen.

Sambia ist das Land, dass der F800 die ihr gebührende Bewunderung und den verdienten Respekt zollt. Wie bereits in Namibia und Südafrika bilden sich, überall dort, wo wir erscheinen, in Bruchteilen von Sekunden aufgeregte Menschentrauben. Nur dieses Mal gilt die Begeisterung nicht uns, sondern eindeutig dem Motorrad. "Big Honda" wird andächtig geraunt oder fast ehrfürchtig: "This is a Honda Bi-äM-dabbelju". "Honda" lernen wir, ist in Sambia das Synonym für Motorrad. Lang gereckte Hälse, der erste Blick gilt meist dem Tacho, gefolgt von einem immer gleichen Ritual: ungläubig und aufgeregt hallt ein "TWOFOURTY" durch die Menge. "TWOFOURTY" ist der Schlüssel zu den Herzen der Sambier. Zumindest zu den Männerherzen. Unsere BMW F800 GS lässt ihre Herzen höher schlagen, oder schneller: auf 240 km/h – TWOFOURTY!
Aber auch unser Dank, unsere Bewunderung ist ihr sicher. Denn nach wie vor ist sie ein treues Gefährt, zuverlässig bis heute. Nach fast 43.000 gefahrenen km in Afrika hatte sie noch keine wirklich ernsthaften Erkrankungen. Unsere Arbeiten an ihr beschränken sich auf Wartungs- und Instandsetzungsarbeiten, die zwangsläufig durch den Verschleiß bedingt sind.

In Lusaka weilen wir auf einer Mission der Weißen Väter, gelegen mitten in einem der Compounds um das Zentrum der Hauptstadt herum. Besuchen Father B., einen Freund von Günther. Vor Jahren lernte er ihn kennen auf einer Reportage über Satanismus. Und freuen uns an dem wasserdichten Wellblechdach, dass uns vor den täglichen, starken Regengüssen beschützt.
Eine Eisenbahnstrecke führt durch Misisi, teilt den Compound in rechts und links vom Bahngleis, in Sonnen- und Schattenseite. Die Wege auch hier eine aufgerissene Kraterlandschaft, riesige, tiefe Seen dazwischen Inseln aus Schlamm und Müll. Wir haben Glück. Es gibt einen Trampelpfad an den Gleisen entlang. Für uns die einzige Möglichkeit mit der F800 in und aus dem überfluteten Compound zu gelangen, während der Regen weiter die Krater füllt. Gnädig Abfall und Gestank unter einer schmutzigbraunen Wasseroberfläche verhüllt.
Die Mission ist ein schöner, friedlicher Ort. Hier gibt es Hoffnung, auch für einige Straßenkinder. Das "Home of Hope" kümmert sich um sie, soweit die Gelder reichen. Spendet Trost, Obhut und Essen, kümmert sich um Bildung, und nach Möglichkeit, um eine Rückführung in die Familien. Die Strassen Lusakas scheinen voll von bettelnden oder peasjobs verrichtender Kinder. Wirklich obdachlos sind jedoch nur wenige hundert von ihnen. Den anderen bietet die Strasse eine der wenigen Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Birgt aber auch die Gefahr, komplett abzurutschen, sich im billigen Rausch der aus Plastikflaschen geschnüffelten Lösungsmittel-Dämpfe zu verlieren. 50 Ngwe (1/2 Kwacha) für eine Verschlusskappe voll Flucht aus der hässlichen Realität der Strasse, wirksam für mehrere Stunden. An manchen Abenden schrillt lautes Schreien, Wimmern und Stöhnen durchs Paradies, gemischt mit dem Geräusch dumpfer Schläge. Es kommt von den Häftlingen der hinter der Missionsmauer befindlichen Polizeistation. Dort wird "intensiv befragt". Die Wachstation, ein Provisorium bestehend aus zwei Containern. Das neue Polizeigebäude wartet seit einiger Zeit bezugsfertig jenseits des Bahngleises, im Schattenreich. Die Ordnungshüter ziehen es allerdings vor, weiterhin die Container zu bewohnen. Sie fürchten um ihre Sicherheit im neuen Heim. Die Angst scheint berechtigt, starb doch wenige Tage vor unserem Eintreffen ein Inhaftierter an den Folgen seiner Befragung. Der 23jährige wurde beschuldigt, ein Handy gestohlen zu haben. Auf Blasphemie steht Todesstrafe in einem Land, dessen Einwohner alle mit mindestens zwei, eher drei Telefonen ausgestattet sind. In dem Mobilfunkanbieter als neue Messiasse ihre Wahrheiten von Werbeplakaten predigen, das Smartphone die Bibel des neuen Zeitalters ist. Telekommunikation scheint der einzige Sektor, auf dem sich Afrika explosionsartig entwickelt hat, im Gegensatz zu jeglicher anderen Entwicklung, die stagniert und meist gar rückläufig ist.
Unterschwellig brodelt die Gewalt auch in den Menschen der Compounds, bereit sich beim geringsten Anlass zu entfesseln. Ein vermeintlicher Dieb wurde von den aufgebrachten Massen in Selbstjustiz zu Tode gesteinigt. Die Staatsgewalt hier machtlos, betritt den Compound nicht. Die Hilfe eines Fernsehteams beschränkte sich auf die Übertragung der Hinrichtung.
Es gibt so viele Eindrücke und Geschichten, Einblick in so viele verschiedene Leben, die uns unterwegs begegnen. Auch wenn es oft keine schönen sind, so relativieren sie doch das eigene Leben.

Vier Asphaltstrassen bilden zur Zeit die Hauptschlagadern Sambias, über die unablässig ein nicht abreißend wollender Strom an LKW-Verkehr pulsiert. Sie verbinden West und Ost, Süd und Nord miteinander. So ist Kairo Road, die mitten durch Lusaka führende Hauptstrasse, Teil eines interkontinentalen Straßenprojektes. Über 10.228 km zieht sich der Kairo-Gaborone-(Kapstadt)-Highway. Er war die erste von insgesamt 9 Strecken, bereits Ende des 19. Jahrhunderts geplant und angelehnt an den unvollendeten kolonialen Traum Cecil Rhodes, die Besitzungen des Britischen Empires mit einer durchgehenden Eisenbahnverbindung von Kapstadt nach Kairo zu durchziehen. Aber, wie bereits schon unter den ehemaligen Kolonialmächten, werden von den heute unabhängigen Staaten Afrikas die Grenzen eher betont. Kriege und Konflikte behindern und viele Abschnitte des Netzes sind noch nicht fertiggestellt. So bleibt auch dieser Wunsch nach einem vereinten Afrika, nach einer Linderung der Armut durch Entwicklung von Infrastruktur und Handelsstraßennetzen vorerst nur ein Traum.
Ihren eigenen Traum von Infrastruktur und Straßennetzen verwirklichen sich derzeit die Chinesen, die uns überall im Land begegnen. Wir fahren vorbei an Krankenhäusern, Schulen, Hotels mit chinesischen Schriftzeichen. Der Straßenbau ist fest in ihrer Hand. Besser, unter ihrer Kontrolle. Neue Formen des Kolonialismus in Afrika? Der Grundstein hierfür wurde vor vielen Jahren gelegt. Die ehemals gewährte Hilfe zu Zeiten der Unabhängigkeitsbewegung in Afrika öffnet heute Tor und Tür. Diese Straßen zumindest werden fertig gestellt. Ähnliche Projekte, die an einheimische, sprich schwarze Firmen vergeben wurden, waren nicht nur erheblich kostenintensiver. Sie verliefen sich am Ende buchstäblich im Sand, blieben ohne befahrbares Ergebnis.

So gelangen wir über die bereits 1964, zu Zeiten des Kommunismus in Sambia, von den Chinesen erbaute Mukuku Brücke, auch chinese Bridge genannt, dorthin, "wo das Wasser den Himmel trifft", Bangweulu sagen die Einheimischen. Hier auf dem nordsambischen Plateau bilden die Bangweulu Sümpfe gemeinsam mit dem gleichnamigen See das grosse Bangweulubassin. Je nach Wasserstand beträgt die Seegröße zwischen 4.500 bis 10.000 Quadratkilometer, wodurch sich die Uferlinie um bis zu 45 km verschieben kann. Wasserwege sind die einzigen Transportrouten. Was uns lockt ist nicht der Artenreichtum der hier lebenden Vogel- und Tierarten, dessen Vielfalt die des Okavango-Deltas in Botswana übertreffen soll. Unser Thema sind nach wie vor Menschen. Hier sollen noch Sumpfnomaden leben. Unsere Zeit jedoch reicht nur für eine kurze Recherche, unsere Visa laufen demnächst ab. Eine Tierart erweckt aber dennoch unsere Aufmerksamkeit. Von ihr hatte uns Father B., der viele Jahre in den Sümpfen verbrachte, bereits in Lusaka erzählt. Auch ihn beschäftigt das Thema seit Jahren, ist Bestandteil seiner täglichen Arbeit. Artifical Crocodiles. Chamm flackert auf, dumpfes Getrommel aus dem dunklen Herzen Afrikas. Wer auf die Schnelle reich werden möchte, erkauft sich die Künste eines Witchdoctors und den entsprechenden Zaubertrank. Mit diesem erlangt man die Gestalt eines Krokodils und fischt nach Menschen. Verkauft deren Organe gewinnbringend an die Inder. Wieso Inder? "Because they know, where to sell it!" Für uns eine lustige Geschichte mit einem aber für Sambia ernsten Hintergrund. Denn nichts geschieht hier zufällig. Für alles gibt es einen Grund, gibt es einen Verantwortlichen, wird jemand zur Rechenschaft gezogen, oft folgenschwer. Kein Missgeschick, Unfall, Unglück, kein Tod, sei er noch so natürlich oder plausibel, bleibt ungesühnt. Auch hier arbeiten die Doctoren gut, ein Schuldiger ist schnell gefunden. Neid und Missgunst helfen bei der Auswahl. Es bleibt allein die Möglichkeit, sich frei zu kaufen. Sonst droht gesellschaftliche Ächtung, gesellschaftlicher Tod bis hin zu echtem.

Mpulungu, ein kleiner Ort an der Südspitze des Lake Tanganyika, ist vorerst unsere letzte Station in Sambia. Hier warten wir auf die Liemba, das älteste noch in Betrieb befindliche deutsche Dampfschiff aus dem ersten Weltkrieg. Es stellt bis heute noch immer das wichtigste und sicherste Transportmittel in der See-Region dar. Mit ihr wollen wir übersetzen nach Tansania, weiter auf unserem Weg zu den Nomaden Zentral-Tansanias, Nord-Kenias und in die Danakil-Depression Äthiopiens. Heute soll sie kommen, laut Fahrplan. Vielleicht. Oder morgen, am Samstag. Wahrscheinlich. Wann genau, fragen wir. "Don´t worry, the Liemba will come at anytime." African Time.

Text: Rea La Greca


100 Jahre Gegenwart

Eine Zeit-Reise durch Tansania, September 2014

Sie kam doch am Freitag und nicht am Samstag. Fast zumindest. Nicht an diesem Freitag und auch nicht an jenem davor. Aber was sind schon drei Wochen im Leben einer Hundertjährigen? – die Zeiten deutscher Pünktlichkeit des ehemals kaiserlichen Dampfschiffs Goetzen jedenfalls sind lange vorbei, heute ist Liemba-Time!

In 5.000 Kisten kam sie nach Afrika, feinsäuberlich verpackt und exakt nummeriert verließ sie Ende 1913 die Meyer-Werft in Papenburg. Per Schiff ging´s von Hamburg nach Dar es Salaam, dem Verwaltungssitz des damaligen Deutsch-Ostafrikas. Und mit der gerade fertig gestellten Mittellandbahn landeinwärts weiter an ihren Bestimmungsort, dem Tanganjika-See. Dort verhalfen ihr drei deutsche Schiffsbauer und rund 250 einheimische Arbeiter binnen eines Jahres zurück zu ihrer stattlichen Gestalt. 1.200 Tonnen Stahl in Form eines 70 Meter langen und 10 Meter breiten Passagier- und Frachtschiffes sollten an den Grenzen des kolonialen Reiches ein Zeichen deutscher Macht setzen. Am 5. Februar 1915 schwamm das Schiff zum ersten Mal im Wasser. Nur ein Jahr später versenkte Schiffsbaumeister Rüter sie von eigener Hand. Deutschland befand sich mit der Welt im Krieg und die Goetzen sollte nicht in die Hände des Feindes gelangen. Zwei Weltkriege hat sie überstanden und gut 9 Jahre auf dem Grund des Sees verbracht. Denn kaum von den Belgiern gehoben, versank sie erneut bei einem schweren Sturm im Hafenbecken. In den 1970 Jahren knapp der Verschrottung entronnen, befährt sie bis heute unter dem Namen „MS Liemba“ den 673 Kilometer langen Lake Tanganyika. Für die Menschen hier ist sie die wichtigste, oft einzige und bezahlbare Verkehrsverbindung.
„Tomorrow morning“ vertröst man uns, nachdem wir heute schon zum dritten mal vorbeigekommen sind, und versichert uns gleichzeitig, dass sie IMMER erst samstags kommt – sollte sie nicht doch schon, laut Fahrplan, am Freitag eintreffen! Samstag früh um 7 Uhr stehen wir also erneut voll beladen und bepackt vor dem stählernen Eingangstor zum Hafengelände. Obwohl seit dem letzten „morgen früh kommt sie ganz sicher“ keine 24 Stunden vergangen sind, scheint unser Erscheinen Verwunderung und leichtes Unverständnis auszulösen. Denn hier weiß bereits jeder, was auch uns wenige Augenblicke später mitgeteilt wird: die Liemba kommt heute nicht! Kann nicht. Technische Probleme, „something with the engine“ oder Wartungsarbeiten, man weiß es nicht so genau. Erst vor wenigen Stunden hat man sich aus Tansania dazu bequemt, die Hafenauthorethy im sambischen Mpulungu darüber zu informieren, dass die Liemba den Heimathafen nicht verlassen hat. Laut Fahrplan sollte sie bereits seit zwei Tagen auf dem Lake Tanganyika unterwegs sein, denn mittwochnachmittags verlässt sie den Hafen Kigoma´s. Spätestens! Frühestens? IMMER! Wir sind fassungslos. Vielleicht ein Missverständnis? Jemand hat sich am Telefon verhört? Ein Verständigungsproblem? Wir stellen unsere und die Englischkenntnisse aller Beteiligten in Frage. Sicherheitshalber wird bei jedem Uniform- oder Attribut “Vertrauenswürdig“-Träger nachgehakt. Hoffen und Vertrauen erweisen sich leider als vergebens, aber: „Don´t worry!“ Stoisch lächelnd versichert man uns: „She will come next week. For sure!“ Und was, unsere Befürchtung, sollte sie dann erneut aussetzen, diesmal fahrplanmäßig? Denn die alte Dame verlässt seit einiger Zeit nur noch an geraden Kalender-Wochen ihren Heimathafen. Oder sich die Wartungsarbeiten in die Länge ziehen? Neinnein, nächste Woche kommt sie bestimmt. Denn sie kommt immer freitags. Also wird sie nächsten Samstag auch hier sein.
Wir beratschlagen den halben Morgen, ob wir eine weitere Woche des Wartens riskieren, denn 12 Tage harren wir bereits. Günthers Wunsch, den Lake Tanganjika mit dem ehemals deutschen Dampfschiff zu queren, wird für uns buchstäblich zur Zeit-Reise. Unsere Visa konnten wir bereits verlängern. Problemlos und ohne zusätzliche Gebühr, denn im Office war man mehr mit fernsehen und Musikvideos beschäftigt. Anstatt der angefragten sieben Tage – „Sorry, sind 30 Tage auch ok?“ – glücklicherweise gleich um einen weiterer Monat, der Immigration-Officer hatte sich verschrieben. Die singenden Künste seines Kollegen im gerade fertig gestellten Videoclip hatten ihn abgelenkt.

Ich sitze vor dem Chef der Hafenauthorethy und versuche meine Nervosität und Ungeduld wegzulächeln. Er ist dabei, mir einen Beleg auszustellen, mittels dem er seine Sekretärin befugt, mir eine Rechnung zu schreiben. Diese wiederum erlaubt mir, im Kassenbüro die Verladegebühr für unser Motorrad entrichten zu dürfen. Nur gegen Vorlage der im Gegenzug dafür erhaltenen Quittung werden Kranführer und Arbeiter die F800 GS auf die Liemba befördern. Alles geht schleppend langsam. Während Günther dem Zoll Einblick auch in den letzen Winkel unseres Gepäcks gewährt, hetze ich seit Stunden auf der Suche nach der richtige Person mit dem passenden Zettel und dem dazugehörigen Stempel auf dem weitläufigen Hafengelände umher. Der knappe Hinweis des Kapitäns sorgt für Ausdauer und treibt mich an: er wird nicht warten, auch nicht auf uns. Sobald das Schiff mit der vorgesehenen Fracht beladen ist, wird er ablegen. Es ist Freitag. Die Liemba kam spät am Nachmittag, niemand hatte heute mit ihr gerechnet. Um teure Liegegebühren in Sambia zu vermeiden wird das Schiff noch heute auslaufen. In einer Stunde wird es dunkel. Umständlich kramt der Chef einen Zettel, den richtigen Schreiber und ein Lineal aus den Tiefen seiner Schublade hervor. Kühles Halbdunkel liegt über der kargen Einrichtung. In einer Ecke eine große Wanne mit frisch gefangenem Fisch. Der Abend verspricht ein Grillfest. Ich übe verhalten smaltalk. Ein Ventilator rotiert von der Decke, ersetzt das Ticken der fehlenden Uhr. Zäh dehnt sich die Zeit auf dem Zettel, zerreißt und landet im Müll. Der Chef ist in der Zeile verrutscht und fängt von vorne an. Panik unterdrückend versuche ich ein höfliches Drängen. Verpacke Dringlichkeit und Zeitdruck in holprigen Humor. Erwähne, wie eilig ich seinen Beleg benötige, am besten schnellstmöglich. Sonst legt die Liemba nach Wochen des Wartens ohne uns ab. Den Blick konzentriert in der schreibenden Hand, erzählt er mir nuschelnd, dass die Liemba normalerweise erst morgen, am Samstag gekommen wäre. Aber heute habe er ihnen die Anlegeerlaubnis für Samstag verweigert. „We are to bussy tomorrow“, sagt er und sein Blick sucht den der Fische. „Keine Anlegeerlaubnis?“ wiederhole ich ungläubig. „Yes, wir haben morgen zuviel zu tun, deshalb musste sie heute anlegen.“ Die Fische starren glasig zum Ventilator.

Die zupackenden Hände der Arbeiter sind zahlreich, doch im Verladen eines Motorrades ungeübt. Trockenfischkisten und Maismehlsäcke sind wesentlich unempfindlicher. Günther hat nicht Augen genug ihr Tun zu kontrollieren, muss zeitgleich dirigieren um folgenschwere Fehler und Schäden zu vermeiden. Deutsche Gründlichkeit gegen afrikanische Eile. In einem Netz wird die F800 GS mit einem Kran an Bord gehievt. Während ich fotografiere, wie 270 kg Motorrad nebst Packtascheninhalt die Schwerkraft überwinden, versuche ich parallel unser am Hafenkai liegendes Gepäck im Auge zu behalten. Zu viele Hände in einem Gewirr aus Händlern, Hafenarbeitern, Passagieren und Schaulustigen machen auch mich leicht nervös. Die BMW landet wohlbehalten an Bord. Der ausgewählte Platz taugt jedoch nur als Zwischenlösung, sie soll aufs Oberdeck. Erneut wird geschoben und verzurrt. Ein Ruck geht durch den Lastenarm, nur diesmal ohne Absprache. Vier Stahltrossen spannen sich, die BMW beginnt zu schweben, dann zu rutschen, fällt fast aus dem Netz! Günthers Gebrüll stoppt den Kranführer, verhindert den Absturz. Das Motorrad wird neu im Netz positioniert und während es, gefolgt von unseren Blicken, abhebt, vergessen wir zu atmen. Der Weg auf´s Oberdeck führt über die Reling raus aufs offene Wasser! Im Lärm der ablegenden Dieselgeneratoren springe ich als Letzte an Bord. Ausgestreckte Ananashände, die noch immer auf Geschäfte hoffen, verlieren sich im Dunkel. Es beginnt zu regnen.

Schnell ist an Bord jede Nische belegt. Das Boot verwandelt sich in einen schwimmenden Bazar. Unter den Treppen improvisierte Shops, über Obst, Chips, Seife, Softdrinks bis hin zum Trockenfisch ist hier alles käuflich. Das Oberdeck ist binnen kürzester Zeit fest in Händen der Dritten Klasse. Den unbequemen Holzbänken entfliehend, ziehen viele der Passagiere es vor, sich in den schmalen Gängen ihr Lager für die Nacht herzurichten. Gezwungen durch die Notwendigkeit einer sichern Gepäck-Aufbewahrung investieren wir in eine der Erste-Klasse-Kabinen. Den Charme eines in die Jahre gekommenen Jugendherbergszimmers erhalten wir zum Kurs eines First-Class-Hotels. Extravagant sind lediglich die Preise für Touristen, Luxus sucht man auf der Liemba dieser Tage vergebens. Was uns nicht weiter betrübt, denn die Kabine betreten wir in den beiden Tagen der Überfahrt nur selten. Uns fasziniert das afrikanische Leben der Liemba und das beginnt vor unserer Kabinentür. Dort kichern aus einer dunklen Ecke drei Stimmen junger Schönheiten, aufgeregt beschäftigt mit Make-up und Lippenstift. Die Nacht ersetzt die Schleier, schafft freien Raum und Urlaub aus der strengen Religion.
44 Stunden und 18 Stops währt die Überfahrt, geschlafen wird wenig. Es wird be- und entladen, oft mit Hilfe des auf dem Schiff installierten Kran, denn im Rumpf ist Laderaum für 2000 Tonnen Fracht. Meist ist es „dagaa“, Trockenfisch, im See gefangen. Passagiere steigen aus oder zu, rund um die Uhr. Befestigte Häfen gibt es auf der gesamten Strecke allerdings nur drei. Die Menschen aus den übrigen Dörfern erreichen die Liemba nur in Holzbooten und versuchen auf offener See an den Bordwänden hängend, ins Boot zu gelangen. Kein ungefährliches Manöver im hektischen Chaos, bei unruhiger See. Aus allen Richtungen wird gehoben, gezogen, gehievt und gezerrt. Gepäckstücke fliegen mit lautstarken Anweisungen. Nicht jeder erweist sich als unerschrockener Kletterer oder sportlich durchtrainiert. Eine Frau verliert das Gleichgewicht und taucht unter im Wasser, es ist drei Uhr in der Nacht. Monsieur Cleophas Amisi kann nicht schlafen, also vertreibt er uns die Zeit mit Geschichten aus seinem Business, von Schmugglern auf der Liemba und von kongolesischen Piraten. Letztere erklommen die Bordwände und wollten die Passagiere ausrauben. Seitdem sind bewaffnete Polizisten ständige Begleiter an Bord. Ein Passagier- und Frachtschiff unterwegs auf dem zweitgrößten See Afrikas, der sich aufteilt auf vier Länder, weckt Begehrlichkeiten. Monsieur Cleophas ist aus dem Kongo und handelt mit Tansanit, einem der begehrtesten Edelsteine der Welt. Er muss es wissen. Das Boot füllt sich mit Waren und Menschen, unsere Speicherkarten mit Bildern, unsere Köpfe mit Geschichten.
Wir nähern uns dem Heimathafen der Liemba und der Hahn, eingebucht in einem Gitterdurchgang direkt neben der Küche, scheint erleichtert, die Reise heil überstanden zu haben. Nur unsere Ankunftsfreude ist gedämpft, denn im Hafen herrscht striktes Film- und Fotografierverbot. Noch auf dem Boot weißt uns der Kapitän ausdrücklich darauf hin.

Hafen, Werft und Eisenbahn, sowie die wichtigsten öffentlichen Bauten Kigomas entstammen der deutschen Kolonialzeit. Im Jahr 1888 verpachtete der Sultan von Sansibar einen 10 Meilen breiten Küstenstreifen am indischen Ozean an die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft, nachdem einige Jahre zuvor die Weichenstellung in Form eines deutschen Flottengeschaders nebst Kanonen erfolgte. Nach nur drei Jahren ging hieraus die Kolonie Deutsch-Ostafrika hervor, deren Gebiet sich über die heutigen Länder Tansania (ohne Sansibar), Ruanda, Burundi, sowie kleine Teile Mosambiks erstreckte. Möglichst schnell sollte die Kolonie wirtschaftlich erschlossen werden, man begann mit dem Aufbau einer modernen Verkehrsinfrastruktur. Eine Eisenbahnstrecke sowie drei Passagier- und Frachtschiffe auf dem Tanganjika-See, neben der Goetzen waren zwei weitere geplant, sollten den Abtransport von Rohstoffen aus Nordrhodesien und Belgisch-Kongo ermöglichen. Mit dem verlorenen Krieg ging das Gebiet an Belgien und Großbritannien über. Kigomas Hafen ist heute einer der wichtigsten Verkehrspunkte Zentralafrikas, die Gebäude jedoch welken in Erinnerung einstiger kolonialer Pracht dahin. Nach über 60 Jahren Unabhängigkeit ist Tansania arm und zerfressen von Korruption, aber immerhin eines der stabilsten Länder Afrikas. Der erste tansanische Staatspräsidenten, Julius Nyerere, scheiterte mit seiner Idee eines „afrikanischen Sozialismus“. „Ujamaa“, der Traum von gegenseitiger Achtung und Gemeinschaftssinn, endete in militärischer Gewalt, die über 11 Millionen Menschen zum Umzug in Plandörfer zwang. Die wichtigste Errungenschaft aus dieser Zeit jedoch ist die außergewöhnliche, politische Stabilität des Landes. Unter anderem mit Einführung des Swahili als gemeinsame Sprache gelang es Nyerere, aus etwa 120 verschiedenen ethnischen und unterschiedlichen konfessionellen Gruppen eine geeinte Nation zu formen: „Umoja na Amani“ – Einheit und Friede für Tansania.
In Mpulungu folgten wir dem Herzen, in Kigoma der Vernunft, uns überzeugen Horrorgeschichten von unbefahrbaren Pisten, in Kigoma zu verweilen. Wir erobern den Ort im Vorbeifahren, besser, die F800 GS. Sämtliche Bodaboda-Fahrer liegen ihr zu Füßen, grüßen uns hupend und blinkend, sind begeistert und begierig auf jedes einzelne Detail. Die zweirädrigen Taxifahrer im ganzen Land fahren hauptsächlich auf 150iger Maschinen made in China. Anders als in Sambia, steht hier die Frage nach dem Hubraum im Vordergrund „How many CC?“ Größere Motorräder verirren sich sehr selten hierher und so liegen „mia nane CC“, 800 Kubik, jenseits ihrer Traumvorstellungen. Mal wieder ist es die BMW, die uns sämtliche Herzen öffnet und oft auch die dahinter liegenden Türen.
Hier am Lake Tanganyika die Regenzeit zu überbrücken fällt nicht schwer, denn Günther liegt im Fieber: febris constructio navalis. Es tritt in Schüben auf. Infiziert hat er sich in einem kleinen Fischerhafen, keine 15 km von Kigoma entfernt. Am hölzernen Gerippe einer Arche Noa: Schiffsbaufieber. Es war der Zufall, der uns nach Ujiji führte. Von islamischen Kaufleute besiedelt, war der Ort einst ein bedeutender Stützpunkt für den Güter- und Sklavenhandel aus dem Inneren Afrikas kommend. Von hier gingen die Sklavenkarawanen weiter an die Küste nach Bagamoyo, bevor sie nach Sansibar und von dort aus weiter in andere Länder verschifft wurden. Hier in der ältesten Stadt im westlichen Tansania, fand auch der, mit der Suche beauftragte Journalist Henry Morton Stanley den schwer erkrankten, schottischen Missionar und Afrikaforscher David Livingstone. Ein Gedenkstein erinnert daran. Wir suchen den Stein und finden die KINSOLYO. Im winzigen Hafen Ujijis blieb die Zeit stehen. Gerade wurde mit dem Bau eines des heute größten, auf dem Lake Tanganyika verkehrenden Frachtschiffes begonnen. Nach alter omanischer Bauweise, alles von Hand. Die Vernunft weicht der Passion, denn die Genesis der KINSOLYO schlägt uns in ihren Bann. Die skeptische Ablehnung der Arbeiter schwand spürbar mit jedem Tag. Unser Interesse am Bau des Schiffes weckt längst kein Misstrauen sondern nur mehr Stolz. Jeder neue Arbeitsschritt wird uns erklärt, wir sollen nichts versäumen und unser tägliches Erscheinen erwartet. Es ist Mittag und schwüllheiß, vor der kleinen Moschee mahnt der Muezzin zum Gebet. Wir sitzen im Schatten und warten die Pause ab. Mächtig, wie ein gestrandetes Tier liegt das Boot. Die Kraft vieler Arbeiter bewegt es, je nach Notwendigkeit von einer auf die andere Seite. Es wächst täglich zum Schiff, bis es endlich in leuchtendem Rot erstrahlt. Für Salim und Mohamed, die beiden Brüder, ist die KINSOLYO mehr als nur eine gute Geschäftsidee. Sie leben mit ihr den Traum des verstorbenen Vaters. Salim hegt seit zwanzig Jahren noch einen weiteren: er will zurück in den Oman, der Heimat des Vaters. Bis heute träumt er vergebens. Das Sultanat ist rigoros. Um der Seuche der Korruption vorzubeugen, sind Kaufleute aus Ostafrika dort nicht erwünscht. Verständlich, denn beim Lesen der „East African“ erhalten wir einen drastischen Eindruck afrikanischer und tansanischer Korruption: Afrikanische Regierungen lagern mehr als 200 Billionen US-Dollar Cash-Reserven auf ausländischen Konten und weigern sich, diese in die eigenen Länder zu investieren… Und in einem weiteren Artikel: Der tansanischen Haushaltskasse fehlen 500 Millionen US-Dollar, deren Verbleib nicht zu erklären ist. Was uns erschüttert, lässt Afrikaner unberührt. Für sie ist Korruption das Privileg der herrschenden Kaste und ein Faktor, der fest in die Lebenshaltungskosten einberechnet werden muss.
„Muzungus“, Weiße sind ein Garant für schnelles Geld und gearbeitet wird daher mit allen Tricks, erklärt Sam, unser Dolmetscher, nachdem ein sportlich gekleideter, junger Mann in Ujiji uns höflich auffordert 300 US-Dollar an ihn zu bezahlen, sofort und in bar. Er arbeite für die örtliche Behörde und fotografieren sei für Touristen nur mit spezieller Genehmigung erlaubt. Ausweisen kann er sich nicht, also droht er uns wütend nach längerer Diskussion, am nächsten Morgen wiederzukommen. Der Morgen kommt, aber nicht unser Freund. Er arbeitet tatsächlich für eine Behörde, finden wir heraus, aber nicht für die Behauptete. Wir verdrängen den Ärger, denn Wichtiges steht an, das Ereignis, auf das wir seit Wochen warten. Die KINSOLYO soll, von 100 Helfern geschoben, ins Wasser. Afrikanischer Stapellauf. Viele Gäste sind gekommen, selbst Kapitän Titus Benjamin von der Liemba ist anwesend. Nach schweißigen zwei Stunden voll heißerem Geschrei schwimmt sie erhaben im See. Die anschließende Jungfernfahrt muss leider verschoben werden, denn man hatte vergessen, vorher den Motor zu testen: something with the engine! Kolbenfresser. Noch auf dem Schiff wird der Motor von fünf Männern in sämtliche Einzelteile zerrissen. Und um jeglichem weiteren Risiko vorzubeugen, wird das Problem am folgenden Tag symbolisch geschlachtet, in Form einer Ziege an Bord. Nur wenige Tage später muss im Hafen von Kibirizi erneut geopfert werden, dort wird die KINSOLYO mit Fracht beladen. Diesmal wird nicht geschlachtet, nur gemolken, die Ziege sind wir. Diese Staatsdiener sind cleverer und leider auch mächtiger. Zwar fehlt jeder Hinweis und der „Hafen“ besteht nur aus Fischerbooten, aber die Beamten der Immigration wissen: Fotografieren und Filmen ist in Häfen nicht erlaubt. Und dieses Wissen MUSS bezahlt werden. Wir stellen uns stur und nach nutzlosen Stunden des Diskutierens werden nicht wir, sondern die Officer einsichtig. Klug wenden sie sich an Salim, den Kaufmann, der weiß, was zu tun ist. Für den geleisteten Beitrag werden wir herzlich eingeladen, ungeachtet des grundsätzlichen Verbotes, auch in den nächsten Tagen zu fotografieren und zu filmen.

Unsere Wege trennen sich. Die Kinsolyo macht sich auf in den Kongo und wir uns zu den Hadza, an den Lake Easy. Einspurig führt die Strecke von Mpanda nach Tabora. Eine endlos tiefe Sandspur, die sich abwechselt mit steinig-löchrigen Passagen, oft gefährlich mit pudrigem FeschFesch verweht. Die Piste fällt tonnenförmig rechts wie links in tiefe Wassergräben ab. Im Stundentakt kommen uns halsbrecherisch Busse entgegen. Sie steuern wie Kamikaze ihre Passagiere in Richtung Tod oder Mpanda. Immer bleibt nur die Flucht in den Graben und im nachziehenden Sandwirbel erstickend, das erleichternde Gefühl überlebt zu haben. Nach ca. 1.700 Kilometern werden wir mitten in Tanzania eingeholt von Günthers Alptraum, an einem Motorrad, das elektronisch gesteuert ist, nichts machen zu können. Wir stranden an einem Ort, Tag und Nacht beschallt von Fernsehern und schlechten Musikanlage. Wo Muslime und Christen im Wettbewerb der Megaphone stehen und Selfmade-Propheten einer Vielzahl evangelikaler Freikirchen ihre göttlichen Heilsbotschaften in die Ohren ahnungsloser Bürger grölen. Hier werden wir nicht erleuchtet, sondern gefallenen Engeln gleich, geht uns in Singida das Licht aus. Kurz hinter Mpanda hat sich das Problem bereits angekündigt. Über das IMO´s sprach es zu uns und warnte: 12,3 Volt!
Singida bietet wenig mehr als nichts. Doch dieses wenig mehr bringt etwas Licht in unsere trübe Stimmung: INTERNET sei Dank sind wir in der Lage uns elektrotechnisch weiterzubilden, durchforsten das Netz, lesen uns durch Fachforen, Schaltpläne, Multimeterbeschreibungen und Reparaturanleitungen. Wir hängen virtuell am Tropf und Clemens, der Werkstattmeister von Touratech und Freunde leisten erste Hilfe. Singidas Multimeter sind alle made in China, andere Länder haben es nicht bis hierher geschafft. Angeboten werden drei Modelle, sicherheitshalber testen wir sie gleich vor Ort. Das schlichte Prüfen an einer 12 V Batterie läßt unseren Favoriten in Sekunden erglühen. Auch unsere zweite Wahl schafft nur die Note „ungenügend“, das Modell zersetzt sich während des Gebrauches. Chinesische Wegwerfprodukte, speziell produziert für den afrikanischen Markt, überfluten den Kontinent. Die Verkäuferin, freundlich lächelnd, tauscht täglich, und täglich wandert, freundlich lächelnd, unsere Reklamation zurück in die Auslage. Bis ihr Vorrat erschöpft und unsere Nerven zu dünn sind. Beim Abschied vermissen wir ihr Lächeln und ihr herzliches: „Karibu tena“ welcome again. Nach unzähligen, sich zu Tagen summierenden Stunden der Fehlersuche finden wir heraus, dass kein verrottetes Massekabel, kein Wackelkontakt oder defekte Steckverbindung uns am Weiterfahren hindert. Leider auch nicht der Regler, der als Ersatzteil im Gepäck liegt. Schade, ihn zu wechseln wäre so einfach gewesen. Eine kupferne Spulenwicklung, die normalerweise dafür sorgt, dass Licht wird, sozusagen ein Lächeln das Gesicht der Fahrenden erhellt, wenn sie sich mittels Motorrad bewegen, trägt Trauer. Sie ist schwarz. In Fachkreisen spricht man auch vom Durchbrennen der Statorspulenwicklung. Dem Laien bekannt als Lichtmaschine. Also kein Elektronikproblem, sondern something with the engine! Nach über 57.000 gefahrenen Kilometern und unter dieser Belastung nichts Ungewöhnliches. Das Spenderherz der F800 GS erreicht uns mit Lichtgeschwindigkeit. Es reist im Gepäck eines Medizinstudent im ersten Semester und kommt aus Niedereschach über Berlin in den „Hafen des Friedens“ nach Dar es Salaam. Der Bruder einer Volontärin, die für ein freiwilliges soziales Jahr nach Tansania kam, bringt es mit. Das neue Herz der BMW hört er nie schlagen. Er ist durch die Anatomieprüfung gerasselt, erfährt er kurz nach seiner Landung und muss sofort zurück.

Der Begriff Volontär stammt aus dem 17. Jahrhundert, entlehnt vom französischen volontaire „Freiwilliger“. Der Ursprung des Wortes bedeutet „Wollen/Wille/Neigung“. Das englische Gegenstück zu dem deutschen Wort „Freiwilliger“ ist „volunteer“. Freiwillige Hilfe hat in Tansania Tradition. Mitte der 1970iger Jahre wollten Freiwillige aus aller Welt helfen, die Idee des Ujamaa aufzubauen. Tansania und Nicaragua waren Schwerpunktländer des Deutschen Entwicklungsdienstes. Heute quillt das Land über von NGO´s und ausländischen volunteers, die voll des guten Willens sind. Die tansanische Regierung hat diesen Idealismus mittlerweile als lukrative Einnahmequelle erkannt und die Preise für die Arbeitsvisa in astronomische Höhen geschraubt. Viele Institutionen profitieren nicht nur durch kostenlose Arbeitskräfte, sie erwarten zusätzlich auch Geldspenden von ihren Helfern.
Dank Anika, unserer helfenden Volontärin, erreicht die Welle der Hilfsbereitschaft auch uns. Sie organisiert meisterhaft. Notiert Namen, Nummern, Ankunftszeiten. Bringt in Dar es Salaam erst unser Paket via Bus, dann sich selbst und die Brüder auf den Weg, alles in unterschiedliche Richtungen. Mental schon beim Einbau, fiebern wir Stunden zu früh am Busbahnhof der Ankunft entgegen. Bei noch laufendem Motor begrüßt uns der Fahrer per Handschlag durchs offene Fenster. Ihn freuten unsere strahlenden Gesichter, von unserem Paket weiß er nichts. Zuständig für das Gepäck ist ein Unfreundlicher, kein Helfer. Er kann weder Englisch, noch ist er geneigt nach unserem Paket zu fahnden. Mit einem: „Next bus, next bus" verschwindet er im Kofferraum zwischen Bergen von Gepäck. Fast hätte der Bus seine Rückreise nach Dar es Salaam angetreten, unser Paket im Kofferraum wäre sicherlich niemandem aufgefallen. Wir sind hartnäckig und finden einen freundlichen Willigen, der englisch spricht, für uns telefoniert und dolmetscht. Der Unfreundliche fügt sich dem Freundlichen, und nur wenigen Anweisungen und Sekunden später halten wir unser Paket mit der Lichtmaschine in Händen, die sofort in der Lage ist, unsere Gesicht mit einem Strahlen zu erhellen.
Zwischen trocknenden Bettlaken führen wir im Hinterhof unseres Domizils die Herztransplantation durch. Aber der Teufel steckt im Detail und wir sind zu zaghaft, ihn auszutreiben. Der Rotor sitzt fest, „die Dinger hebed echt wie´d Sau!!!!!“ weiß Clemens am anderen Ende des Netzes. Er rät zum Gewaltakt mit Hammerschlägen, danach macht es knack und am siebten Tage wurde endlich Licht. Fast, denn die Spannung unserer Batterie liefert noch immer nicht die gewünschten Werte. Laut William James, psychologischer Philosoph und Begründer des Pragmatismus, besteht die Kunst der Weisheit darin, zu wissen, was man übersehen muss. Auch wir wollen weise werden und übersehen pragmatisch die Spannungsdifferenz. Verlässliche Werte liefert nur ein Diagnosegerät und das nächste befindet sich mit Glück in Kenia/Nairobi. Wir wollen endlich weiter, denn 6 Wochen verbrachten wir in einem Guesthouse, das Gäste sonst nur stundenweise besuchen. Nicht wirklich ein Bordell, mehr die tansanische Lösung für ein gesellschaftliches Problem. Es gibt hier so viele Guest- wie Wohnhäuser. Und ebenso viele Paare auf der Suche nach einem Rückzugsort. Wir atmen auf, als wir Singida endlich verlassen. Die Angestellten unseres Guesthauses ebenfalls. Wir brachten ihren Rhythmus aus dem Takt. Aber wir sind sicher, spätestens am Abend werden wir in ihrer Erinnerung verblasst sein. Wir rätseln, ob unser Problem religiös bedingt war. Es begann mit dem Ramadan und endete kurz danach. Vielleicht wollte unser Motorrad nur fasten.

Auf unserer Suche nach den Hadza queren wir das Gebiet zwischen dem Yaeda Valley und den Kidero-Mountains, die sich entlang des Lake Easy in nordwestlicher Richtung erstrecken, auf der Karte ein heller Fleck. Möglichst dicht orientieren wir uns entlang der Bergkette. Hier sollen sie heute noch in kleinen Familienverbänden, wie einst die Buschleute in Namibia und Botswana, vom Jagen und Sammeln leben. Unsere Strecke führt uns mitten ins Nichts. Keine Piste, nur Trampelpfade von den Tatoga- und Iraq-Hirten, die mit ihren Rindern und Ziegen das Gebiet dünn besiedeln. Wir queren traumhaft schöne, leere Natur. Gewaltige Baobab, hölzerne Zeugen der Zeit, bewachen wie stumme Riesen den kargen Raum. Unsere Zweifel und Ängste, die uns seit Singida beschatten, weichen der Zuversicht. Die F800 GS springt zuverlässig an, die Lichtmaschine arbeitet. „Mens sana in corpore sano“, ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Vor unserer Weiterfahrt hatten wir noch alle notwendigen Wartungsarbeiten vorgenommen. Ölwechsel, Luftfilter entstaubt, Kette gereinigt, Reifen gecheckt. Die Kupplung greift nach über 57.000 km noch immer, und treibt den Metzeler Karoo 3, der unser Schwergewicht seit Livingstone in Sambia trägt, durch einen Parcour von schlammigen Pisten, hartem Schotter, scharfkantigen Geröllfeldern, durch tiefen, weichen Flussand problemlos. Das Suchen gestaltete sich sehr schwer, die Hadza und ihre aus Stroh gefertigten Hütten verschmelzen mit der Landschaft. Für unsere Großstadtaugen bleiben sie unsichtbar. Das Finden beschränkte sich auf diejenigen, die vom Tourismus leben und für horrende Summen kurze Vorstellungen ihres einstigen Lebens anbieten. Die Zeit, die wir zur Reparatur der Lichtmaschine benötigten, gefühlte Lichtjahre, fehlt nun leider, um weiter mit Ortskundigen auf die Suche zu gehen. Denn unsere ablaufenden Visa zwingen zur Eile, lassen keine Möglichkeit, unsere Arbeit befriedigend zu beenden. Wir beschließen nach Kenia auszureisen, um an anderer Stelle wieder nach Tansania zurückzukehren. Die Schleife über Nairobi wollen wir nutzen, um in Deutschland Visa für Äthiopien zu beantragen.

Die Grenze nach Kenia erreichen wir im Jahr 100 nach Beginn des 1. Weltkrieges. Aus der alten Polizeistation am heutigen Grenzort Tavetas fiel der erste Schuss des Ersten Weltkrieges in Ostafrika zwischen Deutschen und Briten. Ein historischer Tag, an dem auch Kenia an die Kämpfe zwischen britischen und deutschen Truppen gedenkt, zumal in Kenia rund 350.000 Afrikaner gezwungen wurden am Kriegszug gegen Deutsch-Ostafrika teilzunehmen und nur wenige überlebten. Ausgestempelt aus Tansania fahren wir durch Niemandsland. Vor dem kenianischen Grenzgebäude sitzt ein Mann im weißem Kittel an einem Klapptisch und isst. Mittagszeit. Wir grüßen im Vorbeigehen. Eine Hand im Essen, die andere zuckt, als wir auf gleicher Höhe sind. Schnell zieht er eine Waffe und richtet sie auf Günthers Stirn, der angewurzelt stehen bleibt. „Habari?“ – Wie geht´s? fragt er, noch immer kauend. Wegen der sich häufenden Ebola-Fälle in Westafrika wird als Sicherheitsmaßnahme seid einigen Wochen vor der Einreise bei allen Personen Fieber gemessen. Die vermeintliche Waffe stellt sich als Thermometer heraus und wir uns, aufgrund unserer Körpertemperatur, als ungefährlich für Kenia. Wir betreten den Raum zum Zeitpunkt der Kranzniederlegung, an der die kenianischen Zöllner via Fernsehübertragung teilnehmen. Das wir aus Deutschland sind, freut die Beamten, sie mögen deutsche Gäste und hegen keine Ressentiments. Und immerhin hat Deutschland vor einigen Wochen die Fussballweltmeisterschaft gewonnen. "Karibuni"! Mit einem strahlenden Lächeln heißt uns Kenia willkommen.

Text: Rea La Greca


Am Ende der Belastbarkeit

Kenia, November 2014

Wäre ihm eine Stimme gegeben, so würde er leise stöhnen, unter der erdrückenden Schwere der Zumutung, die er, seinem Zweck folgend, problemlos trägt. Die Endorphin-Schmiede in Niedereschach, die Herzen der Motorradfahrer auf Drehzahl bringt, gab dem Fahrwerk meiner F 800 GS das kräftigste, verfügbare Standbein, eine Touratech-Innovation, speziell konzipiert für Motorräder unter hoher Zuladung auf Fernreisen. Der Touratech Suspension Level 2/ Explore HP.
Die bevorstehende Etappe auf unserer Projektreise "NOmadsLand" führt uns in den Lebensraum der Massai, das sich nördlich des Kilimanjaro, entlang der kenianisch-tansanischen Grenze erstreckt. Alle Warnungen ignorierend, ein solch beladenes Motorrad durch dieses Gebiet bringen zu wollen sei unmöglich, machen wir uns auf den Weg, machen mit unserer BMW das Unmögliche möglich. Einzig die fast unsichtbaren "speed humps", tonnenförmige Erhebungen über dem Asphaltband, die kurzfristig die Geschwindigkeit aller Fahrzeuge reduzieren, können die 500 Kilogramm Motorrad in Richtung "White Cape", wie der höchste Berg Afrikas auch genannt wird, bremsen. Ohne Hinweis wölben sie sich unvermutet auf, vor Ortschaften oder auch dort, wo unscheinbar in dürrer Landschaft verstreute Hütten liegen, dass jeder, der sie übersieht, sich glücklich schätzen kann, wenn er und sein Fahrzeug unbeschädigt bleiben. In Kadjado, nahe der tansanischen Grenze, biegen wir nach Osten ab, auf die "not recommended roads", Pisten, die zum Amboseli National Park führen. Die stärkste Feder montiert, mit 50% härterer Vorspannug als herkömmliche Dämpfer, klopft das Hinterrad den Sand aus dem tiefen Wellblech. Der Touratech Suspension reagiert auf diese irritierenden Dauerschläge, sowie auf tückische Felsen, deren Spitzen wie Eisberge aus dem Boden ragen, mit einer blitzartigen Dämpfungsfrequenz, sodass das Fahrwerk, ungeachtet der mächtigen Masse, die am Rahmen zerrt, stabil bleibt.
Weit entfernt, kündigt die in der untergehenden Sonne leuchtende rostbraune Gischt am Himmel, ein Meer an. Durch die Siedlung Lengesim, die den Charme eines verlassenen Goldgräberdorfes hat, wehen vor dem angekündigten Duell keine Sträucher über den Sand, sondern Plastiktüten. Hier verbringen wir die Nacht. Kurz nach Sonnenaufgang folgen wir dem Massai Chief der Gemeinde, Johannes, auf seiner 125er China-Toyo, durch den von Plastikmüll verwehten Ort. Hinter den letzten Hütten stoppt er abrupt vor offener Steppe, reisst seinen rechten Arm in die Luft und rät uns, immer seinem Finger nach zu fahren. Seine Fingerspitze endet in dem leuchtenden Streifen am Himmel. Ein roter Sandpfad führt uns direkt hinein, in das wogende Meer aus mehligem Sandstaub, dass sich weit über den Horizont hinaus vor unseren Rädern ausbreitet, knietief. Der heisse, noch trockene Wind, der den Regen bringen soll, peitscht den roten Puder in die Atmosphäre, wirbelt in Sandhosen das Fesch Fesch in den bleiernen Himmel, der erdrückend über der Landschaft schwebt. Schwer mit Bausand aus illegalen Sandgruben beladene LKWs fräsen auf ihrem Weg in die Bauboomtown Nairobi während der Regenzeit tiefe Fahrrinnen in die Piste, die sich mit Flugsand füllten. Massai, auf ihrem Weg in die Grube erzählen uns, dass der Abtransport zwar ihre Weiden weiträumig durch Staub vernichtet, doch ihre Arbeitskraft als Sandlader ihnen ein bescheidenes, aber regelmässiges Einkommen von 4 Euro pro LKW sichert. Zum Grasen treiben sie ihre Herden widerrechtlich über die offene Grenze in den Amboseli Nationale Park , flüchten oder graben sich in Löcher ein, wenn sie ins Visier der Park Ranger kommen.
Mit reduziertem Reifendruck sackt die BMW in den wabernden Untergrund, der Flugsand ist zu fein, um zwei schmale Räder tragen zu können. Wassergleich spritzt er auseinander, schiesst in Fontainen hoch und vernebelt die Sicht. Über Serien hoher Bodenwellen rutscht der Motorschutz, durch stufenartige Löcher, tiefe Mulden, unter dem Fesch Fesch verdeckte, scharfkantige Lateritplatten bringen wir schleudernd die BMW voran. Ich wünschte mir eine noch kräftigere Feder, um der F800 mehr Freiheit über dem Boden zu geben. Aber die Belastung durch eine noch härtere Dämpfung an der Dämpferaufnahme der Schwinge und des Rahmens, trotz verbauter Schrauben einer speziell hochwertigen Festigkeit, könnte das Fahrwerk beschädigen. Aber der Level 2 Explore HP dämpft alles, außer Wünsche. Nicht müde werdend, stemmt er die 500 kg BMW über das scheinbare Ende der Belastbarkeit hinaus.
Entlang der Amboseli Road, eine Wellblechtrasse, die zum Ostgate des Parks führt, gesäumt von Bomas der Massai, erhalten wir einen ersten Eindruck ihrer Kultur. Schnell erkennen wir, dass hier Kultur zu Touristenpreisen angeboten wird, dass diese "Plastik-Massai", wie sie auch spöttisch genannt werden, nicht unsere Zielgruppe sind. In Kimana lernen wir Juan, den Spanier und seine Frau Bella, eine kenianische Luo, kennen. Als Lehrerin unterrichtete sie in einer Schule, die Juan im Massai-Land als Entwicklungshilfe baute. Sie ist der Schlüssel zu den Massai, da sie uns durch ihre Kontakte den Zugang in eine Cultural Massai Boma ermöglicht, in der unter staatlicher Schirmherrschaft Massai Tradition gelehrt und gelebt wird. Nach acht Tagen Leben zwischen Rindern und Kuhdung bauen wir unser Zelt ab, denn wir müssen zurück nach Nairobi, um schnellst möglich unsere Ausreise aus Kenia vorzubereiten. Unsere Visa laufen ab.

Text: Günther Menn


Out of Africa

»Ich hatte eine Farm in Afrika am Fuße der Ngong-Berge …« Einer Zauberformel gleich beschwören diese Worte Bilder: endlose Savannen, grasende Herden, Schirmakazien, rotgolden getaucht in Sonnenuntergang. Wecken ein unerklärlich wehmütiges Verlangen nach Weite und Freiheit. Dank Karen Blixens weltbekanntem Roman und der Traumfabrik Hollywood wurde Kenia zum Sehnsuchtsort des »Out of Africa«. Als Anerkennung ihrer Verdienste um die Tourismusindustrie und um selbige weiter anzukurbeln wurde in Nairobi ein ganzer Stadtteil nach ihr benannt: Karen. Seit dem frühen Morgen sind wir unterwegs auf dem kenianischen Highway A 109. Dort müssen wir hin.
Für Afrika-Romantik fehlt leider gerade die Zeit, endlos erscheinen uns nur die Lkw-Kolonnen, die sich bis zum Horizont erstrecken. Der Blick ist konzentriert nach vorne gerichtet, checkt in kurzen Abständen die Seitenspiegel auf sich darin ankündigende waghalsige Überholmanöver. Wir sind unterwegs auf einer der gefährlichsten Straßen im Land, berüchtigt für die vielen, meist tödlich endenden Unfälle. Über klägliche, heillos überforderte zwei Spuren Asphalt wälzt sich ein Verkehr dramatischen Ausmaßes, denn zwischen dem im Landesinnere liegenden Nairobi und dem an der Küste gelegenen Mombasa sind diese 467 km die einzige Straßenverbindung. Aus dem Süden kommend haben wir die letzten circa 200 Kilometer, die uns über die Mombasa Road mitten ins kenianische Hochland nach Nairobi führen, unterschätzt. Mobilität mutiert hier zum Alptraum. Nur knapp entgehen wir diversen Frontal-Zusammenstößen. Die Fahrer der uns entgegenkommenden Lkws überholen und drängen ab, was ihnen nicht ebenbürtig erscheint. Fehlende Ausweichmöglichkeiten und die sich neben der zerbröckelten Asphaltkante längs ziehenden, tiefen Gräben kümmern sie wenig. Wir sind nervös, angespannt, denn entgegen guter Vorsätze und Planungen werden wir die Hauptstadt zum schlechtmöglichsten Zeitpunkt erreichen – wir fahren der Rushhour entgegen.
Mit unserer breit beladenen Maschine stecken wir mitten im Chaos, quälen uns im Schritttempo durch eine Dunstglocke aus Abgasen und Lärm. Unzählige Straßenhändler stehen, gehen, quetschen sich mit ihrem Potpourri an Waren unerschrocken durch das Blechlawinengewirr. Billigprodukte made in China für Haushalt, Auto und den täglichen Bedarf stehen hoch im Kurs. Verängstigte Hundewelpen an ausgestreckten Händen baumelnd, konkurrieren mit Kokosnüssen, Mangos und Bananen vor den Windschutzscheiben der Vorbeiziehenden. Schulanfang, das Ende einer Agrarmesse und die shoppende Präsidenten-Gattin, für deren Sicherheit vorsichtshalber ganze Straßenzüge gesperrt wurden, katapultieren die Feierabendkarawane ans Limit der Beweglichkeit. Das GPS berechnet sich im Minutentakt neu, wir haben uns verfahren. Unser Ziel ist das »Jungle Junction«, eine Herberge am anderen Ende der Stadt. In einer Stunde spätestens wird es stockdunkel sein und zu allem Überfluss beginnt es zu regnen. Kein guter Zeitpunkt, um mit unserer gesamten Habe durch eine Stadt zu irren, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts im Ruf stand, der gesetzlosester und gefährlichster Ort Afrikas zu sein. Der ist heute gesichert, Kenias Hauptstadt hat eine der höchsten Kriminalitätsraten weltweit. »Nairobbery« – zweifelhaft klingt uns das Wortspiel in den Ohren. Großstadtrealität trifft Ethnopoesie. »Engare Nyarobie, der »kühle Fluss«, nannten die Massai den Ort. Erwachsen aus einem Eisenbahnlager und Versorgungsdepot der britischen Verwaltung Ugandas ist er zu einem reißenden Wasser geschwollen.
»Ich hatte eine Farm in Afrika am Fuße der Ngong-Berge. Die Äquatorlinie zog sich 25 Meilen weiter nördlich durchs Hochland, doch meine Farm lag 2000 Meter über dem Meer …« Die Sicht in unserem Domizil reicht leider nicht bis auf die Berge, auch wenn unweit entfernt das mittlerweile zum Museum umgebaute Haus der Schriftstellerin steht, die Farm wich dem heutigen Stadtteil Karen. Direkt ans Viertel angrenzend der Nairobi-Nationalpark, den die sich ausdehnende Großstadt förmlich umwuchert hat. Hier tummeln sich auf knapp 120 Quadratkilometern immerhin achtzig Säugetierarten – Nashörner und Löwen inklusive. Die Grenzen des Parks sind fließend, wird uns erzählt, des Nachts durchstreifen die großen Katzen schon mal das Viertel auf der Suche nach Essbarem.
Raubtieren begegnen wir nicht in unserer Herberge, dafür treffen wir Traveller unterschiedlichster Nationalitäten, aus allen Richtungen Afrikas kommend. Das »JJ's« ist ein guter Ort, um notwendige Reparaturen durchzuführen, wichtige Informationen auszutauschen oder einfach nur eine kurze Verschnaufpause vor der nächsten Etappe einzulegen. Betreiber Chris, ein seit 20 Jahren in Nairobi lebender Deutscher, kam einst auf seiner Suzuki nach Afrika und blieb hängen, an einer Frau. Cherchez la femme! Gut für alle, die hier unterkommen, denn er schuf einen für kenianische Verhältnisse günstigen Platz – mit Auto- und Motorradwerkstatt, sauber, gut sortiert und organisiert. Es weht ein Hauch von Deutschland. Ergo verschieben wir, ganz deutsch, wie so oft, das Verschnaufen auf später, kamen wir doch nach Nairobi, um weitere Etappen unseres Foto- und Filmprojektes »NOmadsLand« vorzubereiten. Schnellstmöglich müssen wir erstmal unsere Logistik koordinieren, denn diverse Botschaftsbesuche und dringende Wartungsarbeiten an der BMW stehen an. Die unwegsamen Pisten der insgesamt 32 Monate, die wir bisher unterwegs waren – dies unter der Dauerbelastung unseres extremen Gesamtgewichts – fordern einen hohen Tribut. Der Stoßdämpfer der F800 GS, der uns über circa fünfzigtausend Kilometer und durch sechs Länder sanft gedämpft und gefedert hat, ist im Begriff, sein letztes Dämpferöl auszuhauchen. Seit Wochen liegt die BMW auf der Feder, wippt beim Fahren wie ein Känguru. Nach einer gründlichen Bestandsaufnahme verlängern wir die Reparaturliste außerdem um eine neue Batterie, Bremsbeläge und leider auch -scheibe. Der schwebende Bremssattel am Hinterrad hörte auf zu schweben, fraß sich fest und presste die Bremsbacken auf die Scheibe, bis kein Bremsbelag mehr zu erkennen war. Pures Metall hat die Bremsscheibe grausam bearbeitet.
In Gero von Randows Wissens-Kolumne in der »Zeit« heißt es, dass Technik ein Kommunikationsmittel sei. »Sie stellt ein gesellschaftliches Verhältnis her. […] Maschinen verändern ihrerseits Normen, Umgangsformen, Gewohnheiten.« Aber ebenso: »Wir machen nicht nur Technik, sondern sie macht auch etwas mit uns.«
Es genügt ein kurzer Blick auf unser Motorrad und unser Equipment um festzustellen: Auch wir reisen mit viel Technik. Doch vor der Deutschen Botschaft in Nairobi beschleicht uns erstmals das Gefühl, dass wir der technischen Evolution etwas hinterherhinken. Wir stehen vor verschlossenen Toren, denn Termine vergibt man dort längst via Internet-Buchung, und das ausschließlich! Auch der Verkaufsleiter der hiesigen BMW-Niederlassung, die wir wenige Tage nach unserer Ankunft auf der Suche nach Ersatzteilen aufsuchen, schafft es, uns diesbezüglich zu verblüffen. Mit aufgerissenen Armen begrüßt er uns wie lang vermisste Freunde. Er kennt nicht nur unser Motorrad, er weiß noch einiges mehr. Die Geschwindigkeit sozialer Netzwerke hat uns unbemerkt überholt, nachdem zwei von unserer beladenen Maschine und Günthers Erzählungen begeisterte Afrikanerinnen uns fotografiert und uns offensichtlich umgehend via Facebook-Post auf eine virtuelle Reise geschickt haben.
Von unserer »echten« wollen wir uns kurz erholen und freuen uns nach Monaten der Abstinenz auf urbanes Leben und die Vorzüge einer Metropole. Auf Geschichten und Erlebnisse anderer Reisender, auf ungezwungenes Beisammensein und Lachen. Das resettet, bereichert und erhält uns die notwendige Distanz zu unserem Erlebten. Womit wir jedoch nicht gerechnet haben: Wir begegnen einer (uns) bis dahin unbekannten Spezies. Ausgerechnet hier, unweit des Ostafrikanischen Grabenbruchs, Teil des sechstausend Kilometer langen Großen Afrikanischen Grabenbruchs – ein geographischen Riss, der in Kenia am eindrucksvollsten sein soll – an der Wiege des modernen Menschen, von der einst der Ur-Reisende sich aufrichtete und loszog, die Kontinentalplatten zu erkunden. Der digitale Traveller reist heute mit Smartphone und Laptop statt mit Keule und Fell. Ausgerüstet mit Tablets, die Linderung nicht etwa bei Malaria oder Durchfall versprechen, sondern Abhilfe bei einem neuen Leiden schaffen: der Sucht nach permanenter Online-Präsenz. WLAN oder Hotspot entscheiden über Attraktivität und Wahl der Unterkunft, wobei der Hotspot kein heißes Wasser verspricht! Kritisch wird es für die Vertreter der neuen Spezies in den EDGE-Regionen, Kontakte zur virtuellen Aussenwelt sind dort schon so gut wie abgerissen. Ab 3G beginnen ihre Körper mit der Ausschüttung von Endorphinen, denn hier reicht die Übertragungsrate für ruckelfreies Skypen und Streamen. Willkommen in der dritten Generation! Wirklich bemerkenswert an dieser Art der Kommunikation ist das Schweigen, das auch uns kurz sprachlos macht. Der verbale Austausch reduziert sich auf ein notwendiges Minimum, Community wird meist virtuell erlebt. Physisch beschränken sie sich auf das Sharen des WLANs, gesprächig wird man erst im Netz. Sind diese Menschen vielleicht »Out of Africa«?
Aber noch gibt es die »Anderen«, es bedarf keiner App, sie zu finden. Wir treffen Kurz- und Langzeitweltenbummler, Reisende, die hängen blieben, unheilbar infiziert vom Virus Afrika, Motorrad- und Reiseverrückte, die ihre Träume leben auf zwei oder vier Rädern, mit und ohne Motor unterwegs auf den Strassen dieser Welt. Weltoffen, großherzig, hilfsbereit, liebenswert, das Wissen um sie eine echte Bereicherung. Wir reisen gemeinsam auf einer Wellenlänge, auf Wegen, die sich kreuzen. Ungewiss, wo sie enden.
Wochen später erschüttert uns die Nachricht vom Tod zweier, die losfuhren, gemeinsam auf einem Motorrad die Welt zu umrunden. Wir lernten das australische Pärchen im JJ's kennen. Ihre Reise hatte gerade erst begonnen, als ihnen auf den Strassen Ugandas ein Raser in einem 4x4 frontal entgegen kam und dann Fahrerflucht beging. Entsetzlich auch zu erfahren, dass man die beiden im Sterben noch beraubte. Sämtliches Gepäck – selbst persönliche Dinge – verschwanden, teilweise bereits am Unfallort. Nichts blieb, worin die Angehörigen Trost hätten finden können. Afrika, schreibt der Journalist und Autor Mark Seal in seinem Buch über »Das mutige Leben der Joan Root«, sei ein Kontinent der Extreme. »wo große Schönheit gleich neben unvorstellbarer Brutalität liegt, wo zwischen Leben und Tod eine hauchdünne Linie verläuft …«
Vieles hat sich verändert, seit Karen Blixens Kaffeeplantagen-Traum zerplatzte und sie dem Land den Rücken kehrte. Die Kikuyu läuteten in den 1950er Jahren mit dem Mau-Mau-Aufstand ein blutiges Ende der Kolonialherrschaft ein. Nach langen Jahren im Ausnahmezustand billigte die britischen Krone Wahlen, das Land wurde 1963 unter Jomo Kenyatta als erster Präsident in die Unabhängigkeit entlassen. Im Widerstand hatte er den Landraub der weißen Herrscher angeprangert, wie Mark Seal ihn zitierte: »Als die Missionare kamen, besaßen die Afrikaner das Land und die Missionare die Bibel. […] Sie lehrten uns, mit geschlossenen Augen zu beten. Als wir die Augen wieder aufschlugen, hatten sie das Land und wir die Bibel.«
Zum Zeitpunkt unserer Einreise, 52 Jahre später, soll sich der Sohn des ehemaligen Freiheitskämpfers, heute amtierender Präsident, Uhuru Kenyatta, vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verantworten. Er gilt als einer der Hauptverantwortlichen für die Massaker nach der Präsidentschaftswahl 2007. Damals starben mehr als 1.300 Menschen, eine halbe Million war auf der Flucht. Nachdem seine Regierung Zeugennamen öffentlich machte, zogen diese aus Angst um ihr Leben ihre Aussagen zurück, die Anklage musste fallen gelassen werden.
Ähnlich wie einst die dänische Autorin, haben sich viele Kenianer von ihren Träumen verabschiedet. Die soziale Schere klafft weit auseinander. Eine reiche Elite besitzt weite Teile des Landes und der Wirtschaft. Korruption und Gewalt beherrschen den Alltag. Politiker manipulieren und schüren gezielt ethnische Konflikte zum Machterhalt, versorgen in erster Linie sich selbst und die eigene Gemeinschaft. Gemessen am Durchschnittsverdienst der Bevölkerung gönnen sie sich mit die höchsten Diäten weltweit. Die bürgerkriegsähnlichen Zustände nach dem Wahl-Desaster sowie die sich seit 2011 häufenden Anschläge der Al-Shabaab-Miliz erschüttern im Ausland den Glauben in die Sicherheit des Landes. Der Tourismus, Kenias Haupteinnahmequelle, liegt am Boden. Viele Lodges stehen leer und verkommen, an die Küste verirrt sich kaum noch jemand – zu gefährlich!
Nairobi verlassen wir in südliche Richtung und nach nur wenigen Stunden verliert sich die Erinnerung an Hektik und Lärm der Großstadt in der staubigen Hitze der Pisten wie das Flirren einer Fata Morgana. Auch das Wippen ist vergessen, der neue Touratech Suspension stemmt problemlos unsere 500 Kilogramm fahrende Last. Leicht hebt er uns über den Parcours fast unsichtbarer »speed humps«, tonnenförmige Erhebungen, die sich oft ohne Hinweis unvermutet aufwölben, normalerweise vor Ortschaften, aber auch dort, wo unscheinbar verstreut in dürrer Landschaft Hütten liegen. Tückische Hindernisse – jeder, der sie übersieht, kann sich glücklich schätzen, wenn er und sein Fahrzeug unbeschädigt bleiben. Unsere Route führt in ein Gebiet nördlich des Kilimandscharo, nahe der kenianisch-tansanischen Grenze. Ab Kajiado geht es auf den »not recommended roads«, Pisten, die zum Amboseli-Nationalpark führen, weiter nach Osten. Wir wollen zu den Massai, einem Nomaden- und Kriegervolk, beheimatet in den weiten Ebenen Südkenias und Nordtansanias. Ihrem Glauben nach hat Engai, Gott des Regens, ihnen sämtliche Rinder dieser Erde geschenkt. Folglich ist jeder andere, der ein Rind sein Eigen nennt, für die Massai ein Viehdieb, und von ihrem »gottgegebenen« Recht, ihr Eigentum zurückzuholen, machen sie gebrauch – auch mit Gewalt. Bis heute nomadisieren sie mit ihren Herden, soweit es Enteignung und die Grenzen der Nationalparks überhaupt noch zulassen. Erst wurden sie verdrängt von weißen Siedlern, es folgten Tierschützer und schließlich die schwarze Regierung mit ihren Agrarprogrammen und Landverkäufen an private Investoren.
Unheilvoll türmen sich vor uns rotdunkle Wolkenwirbel auf, drohen mit einer schweren Regenfront. Die Nacht bleibt trocken und die Piste am nächsten morgen führt uns nicht, wie befürchtet, ins Nass, sondern mitten hinein in einen trockenroten Ozean aus mehligem Puder, in dem wir knietief versinken: Fesch-Fesch, soweit das Auge reicht. Aufgewirbelt von Dutzenden, schwer mit Bausand beladenen LKWs verdunkelt er den Himmel und unter staubigem Rot erstickt kilometerweit unbarmherzig jedes Grün. Aus diesen illegalen Sandgruben nährt sich das bauboomende Nairobi. Zwei Tage kämpfen wir uns durch die tiefen, zerfurchten, mit Flugsand gefüllten Fahrrinnen der Piste. Im wabernden Untergrund sackt die BMW ein, schwimmt, schlingert, rutscht auf dem Motorschutz über scharfkantige Platten des Lateritbodens, über Serien hoher Bodenwellen, durch stufenartige Löcher, tiefe Mulden, allesamt verborgen unter dem weichen, ockerroten Teppich aus Fesch-Fesch. Wassergleich spritzt er unter unseren Rädern auseinander, schiesst in Fontänen hoch und vernebelt die Sicht.
Während wir erschöpft im Sand eine Pause einlegen, bewundern drei junge Massai das beladene Motorrad. Sie verdingen sich als Tagelöhner in den nahen Gruben und halten Ausschau nach einem unbeladenen LKW, der Arbeit verheißt. Bis zu vier Euro erhalten sie pro Beladung, ein bescheidenes, aber immerhin regelmässiges Einkommen. Dass der Abtransport des Sandes ihre Weiden weiträumig vernichtet und sie kriminalisiert, ist hier wie andernorts bittere Ironie. Zum Grasen treiben sie ihre Herden widerrechtlich über die offene Grenze in den Amboseli-Nationalpark, müssen flüchten oder graben sich in Löcher ein, wenn sie ins Visier der Park-Ranger geraten. Nicht minder ironisch, denn der Erhalt der Wildtiere, heute ein Kassenschlager Kenias, ist entscheidend ihrer Lebensweise zu verdanken. Mit ihren Tieren in den Nationalparks zu leben ist den Massai verwehrt. Ausgesperrt säumen viele mit ihren kleinen Hüttendörfern – den Bomas – nun die Touristenpfade, wie auf der Amboseli Road, einer staubigen Wellblechpiste, die zum Ostgate des Parks führt. In diesen Hütten der »Plastik-Massai«, wie sie auch spöttisch von vielen genannt werden, wird Massai-Culture-To-Go zu Touristenpreisen dargeboten.
Bei einem kurzen Stopp in Kimana verhilft uns, wie so oft schon, unser Motorrad in Kombination mit dem glückliche Zufall zum richtigen Kontakt. Juan, ein motorradbegeisterter Spanier, hat mit einem eigenen Spendenprojekt den Bau einer Schule nebst Unterricht für Massai-Kinder in der Region finanziert. Seine Frau Bella, eine kenianische Luo, unterrichtete dort als Lehrerin. Gemeinsam erkunden wir die Region, besuchen verschiedene Clans und erhalten einen tiefen Einblick in die Kultur jenseits der Folklore blutroter Tücher und bunten Perlenschmucks.
Wir beschließen, unsere Zelte nahe einer Manyatta aufzuschlagen, einem Zirkel aus Hütten, in dem traditionell nur die Morani gemeinsam mit einigen eigens von ihnen ausgewählten Müttern leben, die diese jungen Krieger versorgen. Das Besondere dieser Manyatta ist: Die dort gelehrte und gelebte Massai-Kultur steht neuerdings unter staatlicher Schirmherrschaft. Die Unterstützung beschränkt sich jedoch auf das Hissen der kenianischen Flagge, Schulen findet man in der Region kaum. In der Hauptstadt weiß man nicht nur um das touristische Potential der Kultur sondern auch um die Vorteile eines niedrigen Bildungsniveaus, denn wer weder lesen noch schreiben kann, ist auch nicht in der Lage, seine Interessen zu vertreten.
Es bedarf mehrerer Anläufe, aber nach zähen Verhandlungen und letzlich auch der Erlaubnis des obersten Chiefs der Region sind alle mit unserem Kommen einverstanden. Leider nur fast alle, wie es sich in den Tagen unseres Aufenthaltes dort herausstellt. Einige Männer der Umgebung (zuvor hatten sie vergeblich versucht einen Wegezoll in beachtlicher US-Dollar-Höhe von uns einzutreiben) haben die Frauen massiv eingeschüchtert. Viele weichen uns aus, drehen sich beim Anblick unserer Kameras immer wieder verängstigt weg. Das Filmen und Fotografieren wird täglich schwieriger. Bella, die für uns dolmetscht, findet heraus, dass man ihnen erzählt hat, wir würden ihr Blut aus den Bildern trinken. Daran würden sie langsam, aber sicher sterben!
Schwer baumeln die bunten Perlgehänge an den zerfledderten Ohren. Der oft ernste Blick der Massai-Frauen erinnert an den ihrer sanften Kühe. Ihr Stellenwert in ihrer Kultur ist ein ähnlicher und ihr Wert bemisst sich in Kühen. Geboren als Eigentum des Vaters werden sie oft schon als Kinder verheiratet. Sobald er den Brautpreis erhält, wechseln sie zum Arbeiten in die Familie des Ehemannes. Jedes Tun, jeder Schritt einer Frau, und sei er zur notfallmäßigen Versorgung in einem Krankenhaus, bedarf der vorherigen Genehmigung, erst des Vaters, später des Ehemannes. Der Vater bestimmt auch, wann die Tochter beschnitten werden soll. Ein unter Androhung schwerer Gefängnisstrafen offiziell verbotenes, bis heute jedoch praktiziertes, grausames Ritual. Der scheinbar neutrale Ausdruck »Beschneidung« verharmlost, lässt weder die Vorgehensweise, noch die Schmerzen und Folgeschäden der betroffenen Mädchen erahnen, die nicht selten danach verbluten oder an Infektionen sterben. Die unglücklichen Geschichten und Schicksale der Massai-Frauen brennen sich tief in unser Gedächtnis. Noch lange erinnern wir uns an das klägliche Bild einer jungen Braut, die ohne Freude, resigniert und gedrückt den Feierlichkeiten ihrer eigenen Hochzeit beiwohnte. Die fast heitere Äußerung einer Massai beim Holz sammeln: »Ich habe Glück, mein Ehemann schlägt mich nur wenig …«, den tiefen Schmerz einer Mutter, deren Tochter vom Ehemann vergiftet wurde. Geschichten, die mit Leid beginnen und ohne Hoffnung enden. Hoffnung vielleicht sehen die Frauen für ihre Kinder durch ein wenig Bildung, sollten sie das Schulgeld aufbringen können.
Heftige Gewitter kündigen in der Nacht den Beginn der Regenzeit an. Den Massai bringt der lang ersehnten Regen frisches Gras für die Rinder, er sichert für die nächsten Monate ihr Überleben. Unsere Freude hingegen hält sich in Grenzen, der Steppenboden ist aufgeweicht, wir versinken im Schlamm und unser Zelt läuft voll Wasser, denn nach vielen Monaten aggressiver Sonneneinstrahlung zersetzt sich der Zeltstoff. Ein Blick auf den Kilimandscharo lässt uns bei Sonnenaufgang die nassen Schlafsäcke vergessen. Auf dem höchsten Berg Afrikas fiel in der Nacht der erste Schnee. Der Beginn des Regens ruft uns die Zeit in Erinnerung und mahnt zum Aufbruch. Unsere Visa laufen demnächst ab und zurück im Zyklus der Sesshaften bleiben uns 24 Stunden, um die Grenze nach Tansania zu erreichen.
Auf der Transitstrecke, ein Teil des Trans-African Highways Nr. 4, hasten wir über den kenianischen Grenzposten Namanga nach Tansania. Es zieht uns zur ostafrikanischen Küste. 14 Monate sind wir bereits unterwegs und ein weiterer Jahreswechsel unter afrikanischem Himmel steht bevor. Grund genug, unser Zelt mit Blick auf den indischen Ozean aufzubauen. Monoton rollt sich vor uns das Silbergrau der Straße auf. Auf den rund 600 km von der Grenze bis zur Küste haben wir langsam aber stetig an Geschwindigkeit verloren. Selbst bei Vollgas erreichen wir trotz bester Fahrbedingungen nur noch maximale 90 km/h. Wir spüren das Dröhnen des Motors, der unter uns hart arbeitet. Trotz der enormen Anstrengung gelingt es ihm nicht, den aufgebauten Druck in Geschwindigkeit umzusetzen. Bei einem kurzen Tankstop errechnet uns das IMO einen Verbrauch von 8,5 l pro 100 km, fast ein Drittel mehr als bisher, und das auf Asphalt!
Unsere Ziel liegt im Süden von Tanga, dem einstigen Umschlagplatz für den Sklaven- und Elfenbeinhandel. Heute blüht dort muslimische Kultur in der verwitterten Architektur der ehemaligen deutschen Kolonialmacht.
Strand und Meer müssen warten, wir wollen als Erstes die Benzinpumpen-Elektronik wechseln, die unter der Sitzbank durch eingedrungenes Regenwasser völlig verrottet ist. Aber trotz einer Ersatzelektronik und der Reinigung des Filters durch Rückwärtslauf der Pumpe erreicht der Motor nicht die gewohnte Leistung. Die Lösung ergibt sich zufällig beim Befüllen unseres Benzinkochers. Eine große Wasserblase schwimmt im Benzin! »Verdienen kommt von Verdünnen« scheint das Credo der tansanischen Tankstellenbetreiber zu sein, die ihr Benzin großzügig mit Wasser und Kerosin strecken, um ihre Profite zu maximieren. Dass dies den Fuhrpark der Regierung ständig lahm legte, hat den Präsidenten derart verärgert, dass er eigene Benzindepots anlegen ließ.
»Iiiiiiiiiiiiiiijjjaa!« Der lang gezogene, markante Schrei kündigt sie an, bevor ihr Wagen, vollgestopft mit Mitarbeitern und Waisenkindern, abrupt vor uns zum stehen kommt. Mit diesem Schrei, erzählt sie uns, vertreiben die Massai-Krieger sogar Löwen. Vor 32 Jahren kam sie nach Tansania, und raste als mobile Missionskrankenschwester auf einer 500er-Honda durch die Steppen des Landes. Angelika Wohlenberg ist mittlerweile eine Institution, allen bekannt als »Mama Massai« oder »Sister Angelika«. Heute betreibt sie mit ihrer eigenen Organisation »Hilfe für die Massai e.V.« diverse Projekte im Norden Tansanias und bei Arusha. Für ihre Arbeit erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. Die Art der Massai, sie zu ehren, liegt ihr mehr. Liebevoll wird sie von ihnen »Pagishu« genannt, was »Die mir Kühe schenkte« bedeutet. Es ist das höchste Lob, was sie vergeben. Wir treffen sie zufällig in unserem Küstencamp. Ihre Geschichten sind so wild wie ihr Schrei, ihr Temperament nimmt es mit einem Rudel hungriger Löwen auf.
Um mehr über Angelikas Arbeit zu erfahren, wollen wir uns nach den Feiertagen ihr Stadtinternat bei Arusha ansehen. Die Fahrt dorthin verbinden wir mit einem Trip in die Usambara-Berge. An den in die Berghänge geschlagenen kurvigen Pisten kommt kein pochendes Motorradfahrerherz vorbei. Der Abstecher in die Berge unterbricht unsere gewohnte Fahrroutine, ist willkommenes Training und Teststrecke für Fahrer und Maschine durch eine beeindruckend schöne Region. Sie zählt zu den artenreichsten der Welt, mit Bergregenwäldern, die seit 30 Millionen Jahren existieren. Unbeeindruckt davon wurde hier zu deutscher Kolonialzeit großflächig gerodet, um im kühlen, malariafreien Höhenklima Farmen, Plantagen und Missionsstationen zu errichten. Die kühlen Nächte sind wir nicht mehr gewohnt, im tropischen Klima der nur wenige Kilometer entfernten Küste fielen die Temperaturen Nachts nie unter 32 Grad.
Im »Little Africa« treffen wir Angelika wieder. Hier kümmert sich die »Sister« mit ihren Helfern liebevoll um Massai-Kinder, die aus schwierigen Familienverhältnissen kommen oder Waisen sind. Gefördert werden bevorzugt Mädchen, denn in der Massai-Kultur fließt das Geld meist nur in die Ausbildung der Jungs.
Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt jedoch in der Nordmassaisteppe. In Malambo, einem kleinen Ort am Rande der Serengeti, nördlich des Ngorongoro-Kraters, wird neben einer Schule und einer mobilen Klinik, Aufklärungsarbeit und vieles mehr betrieben.
Hilfe, die die Massai dringend benötigen. Serengeti bedeutet in der Sprache der Massai »Das endlose Land«. Geblieben ist ihnen eine leere Metapher, denn die Welt um sie herum hat sich verändert. Das ihnen zugestandene Land ist heute »endlich« und weckt weiter Begehrlichkeiten. Die königlichen Familien der Vereinigten Arabischen Emirate besitzen bereits exklusive Safari- und Jagdrechte in der Nordmassaisteppe. Nach jahrelangen Versuchen, die Nomaden mit Gewalt zu vertreiben, wobei ganze Dörfer niedergebrannt wurden, ändern die Saudis nun ihre Taktik. Mit astronomischen Summen werden die Clan-Chiefs dazu gebracht, das Land zu verkaufen, erzählt uns Angelika, die Konsequenz ihres Handels ist ihnen nicht bewusst, denn in ihrer Kultur kann man Land nicht besitzen, nur durchwandern.
Unerwartete Probleme zwingen die »Sister« über Nacht nach Malambo. Spontan beschließen wir zu folgen, entscheiden uns schweren Herzens gegen eine Fahrt mit unserem Motorrad. Viel schneller und auch kostengünstigster ist die Mitfluggelegenheit mit dem »Flying Medical Service«. Für die Strecke, die durch den Serengeti-Nationalpark führt, hätten wir vier Tage benötigt, mit den Buschpiloten erreichen wir Malambo in zwei Stunden, was uns zudem die horrende Eintrittsgebühr beim Durchqueren des Parkes erspart. Das Geschäft mit dem »Garten Eden Afrikas«, wie der Nationalpark mit dem darin gelegenen Ngorongoro-Krater auch genannt wird, spült immense Devisen in die Staatskassen, denn der Eintritt ins Paradies muss in US-Dollar entrichtet werden. Die Serpentinenpiste, die sich hoch zum Rand des Kraters schlängelt, gleicht einem verstopften Highway. Die Parkverwaltung vermeldete bereits 2006, dass die wachsende Zahl der Fahrzeuge im Krater ein Problem darstelle.
Müde und zunehmend beunruhigt warten wir seit fünf Uhr früh vor dem Flugplatz in Arusha. Pilotin Elsa ist viel zu spät. Sie musste noch eine kleine Patientin abholen, die im städtischen Krankenhaus zur Behandlung war und jetzt zurück in die Steppe darf. Mit ihrem blonden Zopf wirkt sie kaum älter als das kleine Massai-Mädchen an ihrer Hand. Routiniert checkt sie die Cessna 206. Und noch während sie uns gelassen ihr Alter verrät – 23! – verteilt sie uns per Gewicht auf die vier Sitze der kleinen Maschine und Augenblicke später rollen wir dröhnend und vibrierend über die Startpiste. Ein kurzer Anfangsspurt und vogelgleich lösen wir uns nach wenigen Metern vom Boden. Eine kleine Hand sucht ängstlich die meine und hält sich daran fest. Vom Start fasziniert, hatte ich die kleine Massai neben mir völlig vergessen, so wie die Jugend der Pilotin, die erfahren die Maschine auf Kurs bringt. Unter uns verliert sich die Landschaft in erdigem Gelb und versinkt am Horizont in einem diesigen Wolkennebel. Aus Grün und Braun formieren sich Inseln und zwischen den dunklen Schatten einzelner Wolken fliegen wir dem Ol Doinyo Lengai entgegen, dem Götterberg der Massai am Rande der Serengeti. Einsam steht der Vulkan und die endlose Weite ruft uns Karen Blixens Beschwörung von Sehnsucht in Erinnerung. Raum löst sich von Zeit und wir genießen den Perspektivwechsel, die Landschaft mit diesem kleinen Buschflugzeug zu erkunden. Noch ahnen wir nicht, dass wir bereits in wenigen Tagen an den Fenstern einer Boing 747 sitzen werden. Nur diesmal mit getrübtem Blick, ein trauriger Anlass zwingt uns zurück nach Deutschland. Unsere F800 GS erwartet unsere Rückkehr in Nairobi, am Fuße der Ngong-Berge…

Text: Rea La Greca

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